Brauchen Menschen, die im Koma liegen, überhaupt Seelsorge?
Peter Frör: Sie können nicht sagen: "Ich brauche Seelsorge." Sondern es ist eher andersherum: Entweder man besucht sie und nimmt den kirchlichen Auftrag wahr – dann muss man sich dem stellen, was man dort antrifft. Oder man geht nicht zu ihnen hin – dann macht man gar keine Erfahrung dort. Wenn man aber gar nichts erfährt, dann bekommen die Menschen, die im Koma liegen, nicht die Orientierung und Unterstützung, die ihnen die Seelsorge geben kann.
Sie wissen ja nicht, ob ein Koma-Patient hört und spürt, dass Sie als Seelsorger anwesend sind. Wie kommunizieren Sie mit dem Menschen?
###mehr-personen### Frör: Indem ich hingehe, Kontakt aufnehme, ihn anspreche, mich vorstelle und sage, dass ich da bin. Indem ich sage, dass ich nicht wissen kann, wo er sich jetzt gerade aufhält, und dass ich jetzt herauskriegen muss, ob es recht ist, dass ich jetzt bei ihm bin. Der Patient kann mir das nicht mit Worten mitteilen, aber es gibt andere Kanäle – zum Beispiel, indem ich es spüre. Es gibt Menschen, da kommt kein Feedback, keine Rückmeldung, da merkt man deutlich, es ist nicht in Ordnung. Und dann gibt es Menschen, die nach einer Zeit ein Feedback geben, also ein kleines Zeichen – entweder wird die Atmung schneller oder es bewegt sich ein Augenlid oder so etwas in dieser Richtung. Ein kleines körperliches Zeichen, dass jetzt eine Kommunikation beginnt.
Was tun Sie dann am Bett eines solchen Patienten: Singen Sie, beten Sie, sind Sie nur still da?
Frör: Dafür haben wir eine Vorgehensweise entwickelt, die hieb- und stichfest ist in diesem unsicheren Terrain: Es gilt für den Seelsorgenden, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte zu richten und sich nicht ablenken zu lassen von den Maschinen oder den anwesenden Menschen. Der erste Schritt ist immer, die Aufmerksamkeit auf die körperliche Situation zu richten, zum Beispiel, dass der Patient beatmet ist. Oder dass jetzt hier medizinisch 150-prozentig alles für ihn geschieht, und ihm das auch mitzuteilen – also ihm eine Orientierung zu geben. Das machen die Menschen, die dort tätig sind, nicht immer. Ärzte schauen auf die Kurven und geben Anweisungen, und die Schwestern sagen es, wenn sie eine Verrichtung machen – das tun sie sehr freundlich und sehr menschlich – aber der Patient weiß nicht, dass es ihm zum Wohl geschieht. Er ist vollkommen desorientiert, man spricht von veränderten Bewusstseinszuständen.
"Das geht so weit, dass Menschen in diesen Zuständen nicht einmal wissen, ob sie noch am Leben sind oder nicht"
Also nicht von "Nicht"-Bewusstsein, sondern von "verändertem" Bewusstsein…
Frör: Es ist auf jeden Fall ein Bewusstsein da, solange ein Mensch atmet. Das ist ein rätselhafter veränderter Bewusstseinszustand. Darüber kann man nichts wissen. Aber die Menschen, die wieder wach geworden sind und wieder sprechen konnten, die haben ungeheuerliche Dinge erzählt aus diesen veränderten Bewusstseinszuständen - was sie in der Zeit erlebt haben.
War das real?
Frör: Das war nicht real in dem Sinne, wie unsere Wirklichkeit real ist, sondern es war eine Traumwirklichkeit. Wir haben vom "Traumland" gesprochen. In unserer Alltagswirklichkeit können wir beurteilen, was wir tun, ob ein Mensch freundlich zu uns ist, da kann ich Ihnen meinen Namen und mein Alter nennen. Die Traumland-Wirklichkeit ist eine völlig andere. Da ist ein Mensch ausgeliefert und weiß nicht, was mit ihm geschieht. Man kann sich das so ungefähr vorstellen, als wenn man in einem Zauberwald ist und sich nicht mehr auskennt. Die Menschen bekommen aber mit, was um sie herum geschieht – zum Beispiel die Maschinen oder die Gespräche der Angehörigen und Ärzte – und ordnen das in ihre Traumland-Wirklichkeit ein.
Haben Sie auch erlebt, dass ein Patient, der wieder in der Alltagswirklichkeit angekommen war, im Nachhinein auf einen Ihrer Seelsorgebesuche Bezug genommen hat?
Frör: Natürlich, klar! Ein Beispiel: Da war ein Mann im Koma, er war beatmet und sediert. Nach einer Woche kam ich wieder hin, da war er wach. Die Oberärztin sagte zu ihm: "Schaun Sie mal, Herr Meier, da ist jemand, den Sie noch nicht kennen." Und dann sagte er: "Freilich kenn' ich den, das ist der Herr Pfarrer!"
Oder eine Frau hat erzählt: "Ich weiß nicht mehr, was Sie gesagt oder gemacht haben, aber ich weiß noch, dass Sie da waren und zu mir gesprochen haben. Und Ihre Stimme war so, wie wenn ich auf einem großen Meer im Nebel in einem kleinen Boot alleine unterwegs bin und keine Ahnung habe, in welche Richtung ich rudern soll, und Ihre Stimme war wie eine Leuchtboje, so dass ich mich wieder auskannte und wusste, dass ich unter den Lebenden bin." Das geht so weit, dass Menschen in diesen Zuständen nicht einmal wissen, ob sie noch am Leben sind oder nicht.
Die zweite Aufmerksamkeit bezieht sich auf den Lebenswillen. Ich kann einen Menschen im Koma auf seinen Lebenswillen hin ansprechen, indem ich ihm zu Beispiel sage: "Hier wird alles für Sie getan. Das genügt aber nicht, sondern es ist ungeheuer wichtig, dass Sie hinter dem stehen, was hier geschieht. Es kommt jetzt hundertprozentig auf Sie an – mehr als auf die Ärzte. Es wäre gut, wenn Sie mir ein Zeichen geben können, in welche Richtung es bei Ihnen gehen soll, denn dann weiß ich, in welche Richtung ich Sie unterstützen kann." Das stärkt den Lebenswillen.
Ich möchte gern noch auf die Angehörigen zu sprechen kommen. Wie erleben sie eine solche Situation?
Frör: Um Michael Schumacher herum gibt es ja jetzt weltweit ein Echo, weil er so bekannt ist: Da gibt es Sorge, Aufgewühltsein, "Wir wünschen dir alles Gute", da gibt es Verzweiflung und Aggression. Das sind nicht die engen Angehörigen, darüber weiß ich nichts, aber so reagieren Angehörige im Allgemeinen auch. Sie bangen um das Leben und Überleben. Jetzt zeigt sich die Qualität eines Familiensystems – in seiner unterstützenden, aber auch in seiner destruktiven Form. Es gibt Angehörige, die gehen überhaupt nicht hin. Andere sagen: "Das ist mir alles zu viel", wieder andere bleiben drei Meter vom Bett entfernt sitzen und rühren sich nicht. Und es gibt Angehörige, die wissen intuitiv ganz genau, was jetzt zu tun ist: Die gehen hin, kommunizieren, streicheln ihren Patienten, sagen: "Wir sind für dich da, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass wir dich alleine lassen, wir halten das mit dir durch."
"Es muss mindestens einen Menschen geben, der elementar am Überleben dieses Patienten interessiert ist"
Dann vermute ich, dass Ihre Hilfe als Seelsorger gefragt ist für die Angehörigen, die sich nicht so nah heran trauen.
Frör: Das weiß ich nicht. In der Regel sind die Angehörigen aufgewühlt. Dann sagt das Stationsteam: Wir brauchen den Seelsorger, damit er die Angehörigen beruhigt oder tröstet. Das ist ja auch in gewisser Weise richtig. Aber letztlich ist es meine Aufgabe, die Angehörigen darauf auszurichten, wie sie jetzt für ihren Patienten unterstützend sein können und nicht destruktiv. Denn der Patient wird es überdeutlich mitbekommen, wie die zu ihm stehen. Und es gibt einen Kernsatz: Es muss mindestens einen Menschen auf dieser Erde geben, der jetzt in dieser Situation elementar am Überleben dieses Patienten interessiert ist. Die Angehörigen müssen zur Unterstützung werden. Müssen! Wenn alle sagen: "Jetzt schau´n wir mal, wie das ausgeht" – dann ist das keine Hilfe. Ein solcher Mensch wird nicht überleben.
Was ist Ihr allerwichtigster Grundsatz, mit dem Sie in solche Situationen hineingegangen sind?
Frör: Wenn ein Mensch um sein Leben kämpft, dann braucht er jede Form von Unterstützung. Nicht nur die medizinische und die pflegerische – die ist ja meistens gegeben – sondern auch die personale und die beziehungsmäßige. Und auch die spirituelle. Er braucht den Zuspruch, dass jetzt jemand für ihn da ist, der größer ist als alle menschliche Vernunft und alles menschliches Vermögen. Vielleicht ausgedrückt in einem Segenswort: "Deine Seele behütet der Herr, er bewahrt dein Leben." Damit hat man zwar nicht in der Hand, wie es sich weiterentwickeln wird, aber man hat dann wenigstens das Menschenmögliche getan.