"Drückt das aus, was gerade da ist", fordert Seminarleiterin Johanna Seiler die Teilnehmer auf. Als Coach für Stimmentfaltung bietet sie seit vielen Jahren in ganz Europa Kurse an Musikhochschulen, psychologischen Instituten und auf Kongressen an. Seiler ermutigt dazu, angstfrei zu singen, mit Freude und ohne einen besonderen Anspruch an sich selbst. "Mit der Zeit kann so ein ganz authentischer Selbstausdruck möglich werden", ist die Pianistin und Komponistin überzeugt.
Stimmliche, körperliche und gedankliche Blockaden würden auf diese Weise spielerisch - und häufig unbewusst, ganz nebenbei - einfach losgelassen. Das Vertrauen in die eigene Aussagekraft werde gestärkt. Die Erfahrungen könnten auf den Alltag und die Begegnung mit anderen Menschen übertragen werden, sagt Seiler: "Je regelmäßiger die Impro-Praxis, desto schneller und tiefgreifender wirken sich die musikalischen und menschlichen Prozesse auf den Singenden aus".
Singen aktiviert spezielle Gehirnareale
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"Sprechen wird vorrangig durch die Hirnregionen gesteuert, die dem logischen und analytischen Denken zugeordnet werden", erklärt Stimm-Coach und Sprecherin Anja Grugel. Klangschwingungen hingegen erreichten viele Bereiche des Gehirns, die mit Gefühlen zu tun haben. Daher eigne sich die Stimme auch sehr gut als psychotherapeutischer Zugang: "Beim Singen und Töne-Erzeugen können starke Emotionen freigesetzt werden."
Häufig gehe es erst einmal darum, sich selbst einfach den Gefühlsausdruck zu erlauben. Auch nach vielen Jahren Arbeit mit der Stimme passiere es ihr immer noch, dass sie manchmal starke Traurigkeit beim "Tönen" empfinde, sagt Grugel über sich. "Vielen meiner Klienten geht es auch so". Doch nachdem die Trauer sich auf diese Weise ausgedrückt habe, stelle sich bei vielen neue Lebensfreude ein.
Oft schon hat die Berlinerin erlebt, wie freies Singen - bei dem es ganz bewusst nicht darauf ankommt, den richtigen Ton zu treffen - helfen kann, Stress und Hektik abzubauen. Auf der biologischen Ebene bedeutet dies, dass durch Singen das Immunsystem gestärkt wird. Das ist durch mehrere Studien belegt. Unter anderem werden beim Singen Endorphine freigesetzt, die sogenannten Glückshormone, wie Grugel erklärt. Und beim gemeinsamen Singen hat das soziale Miteinander eine positive Wirkung auf das Wohlbefinden.
Seiler: Beim Singen ist es schwierig, sich depressiv zu fühlen
"Wenn man zusammen singt, ist es schwierig, sich dabei depressiv zu fühlen", urteilt Johanna Seiler. Chormitglieder passen während des gemeinsamen Singens sogar ihre Herzfrequenzen aneinander an, belegt eine aktuelle Studie der schwedischen Universität Gothenburg. Das kontrollierte Ein- und Ausatmen sei außerdem gesund und könne ähnlich wirken wie Yoga.
Auch die Filmindustrie hat das Thema in "The King's Speech" (2010) angerissen: In der Produktion, in der Colin Firth den britischen König Georg VI. spielt, überwindet dieser durch eine Art Sing- und Laut-Psychotherapie seine Sprechstörung und seine Phobie vor dem Reden in der Öffentlichkeit. Der Film, der vier Oscar-Auszeichnungen gewann, lässt in eine Zeit blicken, in der es Psychotherapie nach heutigem Verständnis noch gar nicht gegeben hat.
Doch in den vergangenen 120 Jahren hat sich viel getan: Lag klassischerweise in der Psychoanalyse nach Sigmund Freud der Klient noch frei assoziierend auf einem Sofa, während der Therapeut schweigsam dahinter saß, gibt es mittlerweile viele alternative Verfahren mit Elementen wie Stimme, Musik, Tanz, Theater, Hypnose oder auch bestimmten Bewegungschoreografien. Von den gesetzlichen Krankenkassen werden in Deutschland allerdings nur die drei sogenannten Richtlinienverfahren Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und analytische Psychotherapie (Psychoanalyse) bezahlt. Bei diesen Verfahren wurde die Wirksamkeit ausreichend empirisch geprüft und nachgewiesen.