Wenn Schauspieler regelmäßig als Ermittler im Reiheneinsatz sind, zum Beispiel für den "Tatort", verbietet es sich normalerweise, dass sie auch anderswo Verbrecher jagen. Beispiele für erzwungene Dienstquittierungen gibt es genug. Es war daher abzusehen, dass Wotan Wilke Möhring, seit dem Frühjahr "Tatort"-Kommissar des NDR, nicht dauerhaft Mitglied des Ermittler-Teams aus Stralsund bleiben würde, was schade wäre, denn mit Kommissar Benjamin Lietz haben Martin Eigler (Buch und Regie) und Sven Poser eine schillernde Figur geschaffen. Im jüngsten Fall schlägt Lietz, für den das Gesetz ohnehin eine Art Grauzone ist, endgültig über die Stränge.
Spielschulden
In der letzten Episode, "Tödliches Versprechen", waren Spielschulden nur ein Randthema, hier werden sie zumindest zunächst zum zentralen Motiv. Damals war Lietz der Betroffene, nun geht es um seinen Bruder Achim (Wolfram Koch); der Eintreiber ist der gleiche, und Tim Wilde ist als Gangster Godo Hartmann auch diesmal wieder ein würdiger Gegenspieler des impulsiven Kommissars. Allerdings stecken die beiden Brüder viel tiefer im Schlamassel, als Lietz ahnt: Mit einer kleinen Gefälligkeit will er Achim freikaufen, doch die Information, die er Hartmann überlässt, führt zur Ermordung eines Kollegen und eines Informanten. Auftraggeber war offenbar der geheimnisvolle Chef eines Drogenkartells. Schockiert will der Kommissar die Morde im Alleingang aufklären. Als auch noch sein Bruder erschossen wird, hat Lietz nur ein Ziel: Rache.
Trotz der Exponiertheit des Kommissars, den Wotan Wilke Möhring mit großer Leidenschaft als unbeherrschten und entsprechend unberechenbaren Choleriker verkörpert, ist auch der fünfte Einsatz für das Team aus Stralsund ein Ensemblefilm. Gegenentwurf zu Lietz ist seine Freundin und zudem auch noch schwangere Kollegin Nina Petersen (Katharina Wackernagel), die selbst dann noch zu ihm steht, als längst abzusehen ist, dass er sich nicht länger den polizeilichen Regeln verantwortlich fühlt; prompt gerät sie ebenfalls zwischen die Fronten. Zum Muster der Reihe gehören auch die regelmäßigen Animositäten zwischen Abteilungsleiter Meyer (Michael Rotschopf) und dem einbeinigen Karl (Alexander Held), dessen Loyalität im Zweifelsfall den Kollegen und nicht dem Chef gilt. Neu im Team ist ein Ermittler von der Drogenfahndung, den Wanja Mues als coolen Kommissar mit Burt-Reynolds-Schnäuzer verkörpert.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Im Gegensatz zu früheren Folgen verzichtet Eigler auf optischen Schnickschnack. "Freier Fall" ist ein schnörkelloser sehenswerter Polizeifilm mit ausgezeichneten Darstellern und einem kleinen Besetzungsknüller gegen Ende, als die wahre Identität des Drogenbosses gelüftet wird. Reizvoll ist aber auch der Einstieg, als Meyer anlässlich seines Geburtstags eine Party schmeißt und Katharina Wackernagel eine hörenswerte Version von Carly Simons James-Bond-Song "Nobody does it better" ins Karaoke-Mikrofon haucht. Umso erschütternder ist schließlich der Schluss, der den unvermeidlichen, aber keineswegs endgültigen Abschied in die Wege leitet.