"A-B-C-D-E- F-G. . .", singt Kadira und hüpft durch das karge, etwas provisorisch eingerichtete Wohnzimmer der Familie Musa in Fushe Kosova, einer Siedlung am Rand der kosovarischen Hauptstadt Priština. "...H-I-J-K-L-M-N-O-P...!" Sie hat sichtlichen Spaß am Singen dieses Liedes, das sie in der Schule gelernt und mit ihren Freundinnen gesungen hat. "Ich heiße Kadira, ich bin sieben Jahre alt und ich spreche Deutsch, nur Deutsch", stellt sich die stolze Erstklässlerin vor. "Eine andere Sprache kann ich nicht."
Bis vor kurzem war die Welt für sie damit in Ordnung. "Ich sollte in die zweite Klasse kommen", erzählt sie. Sie ist gerne zur Schule gegangen, dort gab es eine Leseecke und Sportunterricht. Mit ihren Freundinnen hat sie mit Buntstiften gemalt, erinnert sich Kadira." Jetzt bin ich aber im Kosovo, und im Kosovo ist es blöd." Hier im Kosovo geht Kadira nicht mehr zur Schule. "Wir würden ja gar nichts verstehen", sagt sie traurig. Im Kosovo spricht man Albanisch, für Kadira eine Fremdsprache. Geboren ist sie ist in Ahlen, einer kleinen Stadt in Nordrhein-Westfalen, und hat ihr ganzes bisheriges Leben in Deutschland verbracht. Den Kosovo, das Land in dem sie jetzt mit ihrer Familie leben muss, kennt sie nur aus den Erzählungen ihrer Eltern.
Ein "Heimatland", in dem Kadira nie zuvor war
Noch bevor Kadira geboren wurde, hatten ihre Eltern das Land verlassen. In der Kriegswirren des zerfallenden Jugoslawiens entschlossen sie sich, wie viele andere, zur Flucht. Ein Großteil der damals Geflüchteten konnte nach dem Krieg in die Heimat zurückkehren. Für Angehörige der Roma-Minderheit hingegen hörten die Probleme mit dem Ende des Krieges nicht auf. Erschwerend zu dem in Osteuropa fast üblichen Anti-Romanismus kommt im Kosovo hinzu, dass den Roma von der albanischen Bevölkerungsmehrheit häufig vorgeworfen wird, mit den Serben während des Krieges gemeinsame Sache gemacht zu haben. Kadiras Familie entschloss sich deswegen, in Deutschland zu bleiben, wo die Kinder aufgewachsen sind und zur Schule gehen konnten, wo sie die Sprache sprechen und wo sie einen Freundeskreis haben.
"Diesen Tag werde ich nie vergessen", sagt Kadira. Es war vier Uhr früh, als sie in die Wohnung der Musas im nordrhein-westfälischen Beckum eindrangen. "Sie" hatten sogar Schlüssel, erinnert sie sich. "Plötzlich stand da ein Mann bei uns im Schlafzimmer, mit einer Taschenlampe in der Hand. Ich dachte zuerst, das sei mein Vater, es war ja ganz dunkel. Aber er war es nicht." Als der Polizist das Licht im Raum einschaltet, beginnen die Mädchen zu weinen. Zuerst die kleine Schwester Selina, dann auch Elhama, Kadiras ältere Schwester.
Die Abschiebung kommt aus heiterem Himmel
Ab jetzt geht alles sehr schnell, die Wohnung ist voller Uniformierter. Einer der Abschiebepolizisten habe ihren Vater mit Handschellen an sein Bett fixiert, sodass er sich nicht mehr bewegen kann. "Als ob wir Schwerverbrecher wären." Zusammen mit Elhama zeigt Kadira, wie der Vater gefesselt wurde und mit einem Polizeistiefel im Schritt auf dem Bett lag. Selina, die jüngste der Musa-Geschwister, habe nach ihren Eltern geschrien, doch die Polizisten ließen die Eltern nicht zu ihr. "Sie war doch noch ein Baby", sagt Elhama empört.
###mehr-artikel### Die Abschiebung der siebenköpfigen Familie kommt aus heiterem Himmel. Zum Packen bleibt kaum Zeit. "Wir durften jeder nur zwei Taschen mitnehmen." Die Eltern packen vor allem warme Kleider und andere Dinge ein, von denen sie glauben, sie könnten sie im Kosovo brauchen. In ruppigem Tonfall drängen die Staatsbeamten zur Eile, es ist keine Zeit, in Ruhe zu überlegen, was wirklich wichtig ist. Für ein Geschenk von Kadiras bester Freundin Anne Sophie ist kein Platz mehr, auch ihre Schultasche, ihre Spielsachen und ein Familienfotoalbum bleiben zurück, als die Musas kurze Zeit später aus ihrer Wohnung abgeführt und in Polizeiwägen verfrachtet werden. "Drei Autos waren das", erzählt Kadira.
Das Schlimmste aber ist für sie, dass sie sich nicht von ihren Freundinnen verabschieden kann. "Ich hatte noch Spiele ausgeliehen", sagt sie. "Was sollen die denn jetzt denken?" Dann werden geht es zum Flughafen. In einem dunklen Raum müssen sie eine lange Zeit warten, die Eltern weinen. Noch begreifen die Geschwister nicht, was das alles zu bedeuten hat, was gerade passiert. Kadira ist nur noch müde und möchte schlafen, doch sie ist unruhig, immer wieder wacht sie auf. Irgendwann im Laufe des folgenden Tages sollen sie in ein Flugzeug steigen. Dann ist Familie Musa fort. Nicht einmal Medina und Elhama, die ältesten der sechs Geschwister, können sich an das Land erinnern, in dem sie geboren wurden; zu klein waren sie, als die Eltern damals flohen. Keine von ihnen spricht Albanisch, ein bisschen Romani vielleicht, die Sprache der Roma. Aber auch ihre Muttersprache ist Deutsch.
Ohne Habseligkeiten, ohne Perspektive
Auch sie sind in Deutschland zur Schule gegangen. Dort war für alle sechs Kinder klar, wie es weitergehen würde. "Am dritten September hätte ich mein Praktikum als Verkäuferin angefangen", sagt Medina. In Deutschland wäre die Vierzehnjährige in die neunte Klasse gekommen. "Ich habe mich sehr auf das Praktikum gefreut, und auch die Chefin hat sich darauf gefreut, dass ich kommen werde – aber das geht ja jetzt leider nicht."
Kadira spricht nicht die Sprache der anderen Kinder
Einige Wochen später wohnen die Musas in einem kleinen Haus in der Siedlung Fushe Kosova. Auch wenn das Wasser und der Strom von Zeit zu Zeit ausfallen, ist die Wohnung für kosovarische Verhältnisse gut in Schuss. Die Musas haben das Glück, in einem subventionierten Rückkehrer-Programm gelandet zu sein, welches abgeschobenen Familien – zumindest für die ersten Monate – eine Wohnung finanziert. Viele andere landen auf der Straße.
###mehr-info###
Für eine andere aus Deutschland abgeschobene Familie, die im selben Haus untergebracht ist, ist die die Zeit im Rückkehrer-Programm schon bald abgelaufen. Wenn kein Wunder geschieht, sind sie danach obdachlos oder müssen in einem der heruntergekommenen Roma-Slums des Kosovo leben. Zumindest in dieser Hinsicht ist die Situation der Familie Musa hoffnungsvoll. Doch das Geld reicht vorne und hinten nicht, weder für einen Arzt, noch für Schulsachen oder eine ausgewogene Ernährung . Auf dem kleinen, heruntergekommenen Spielplatz, neben einer Art Müllkippe direkt hinter dem Haus, spielt Kadira meist ganz alleine oder mit ihren Geschwistern. Es gibt zwar andere Kinder in der Gegend, die ebenfalls dort spielen, doch die sprechen nur Albanisch.
Erstklässlerinnen haben kein Skype
Dementsprechend öde gestalten sich die Tage bei den Musas. Nicht einmal etwas zum Lesen haben sie, in einer Sprache, welche sie verstehen würden. Die einzige Abwechslung, die es ab und zu für sie gibt, sind die Besuche bei einem Onkel in eine benachbarte Siedlung, der über einen Internetanschluss verfügt. Hier können die Musas über Skype zumindest mit ihren Verwandten in Deutschland in Kontakt bleiben.
Mit Kadiras Schulfreundinnen geht das aber nicht, die Erstklässlerinnen haben kein Skype. So bleibt den Musa-Kindern nicht viel anderes übrig, als in der Wohnung auszuharren. "Erster Tag: zuhause bleiben. Zweiter Tag: zum Onkel gehen. Dritter Tag: wieder zuhause bleiben. Und dann immer wieder so", beschreibt Kadira ihren Alltag. Ob sie sich vorstellen kann, hier zu bleiben, im Kosovo? Kadira schüttelt nur den Kopf: "Ich möchte zurück in mein richtiges Zuhause."