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Eine Pflanze wird gegossen: Wachstum braucht seine Zeit.
Warum ich im neuen Jahr kein neuer Mensch werden will
Spätestens zum Jahresanfang haben sie wieder Hochsaison: Die guten Vorsätze, die nach dem Motto: "Endlich Schluss mit eigentlich" gefasst werden und für die es jede Menge Unterstützung in Form von Ratgeber- und Lebenshilfe-Literatur gibt. Ob weltanschaulich neutral, christlich, buddhistisch, esoterisch oder auf der Grundlage der Hirnforschung: Alle wollen bei der Umsetzung der guten Vorsätze helfen und Veränderung in Gang setzten. Und das möglichst schnell und effektiv.

Seit Jahren rollt die Ratgeberwelle ungebremst. Ob Gesundheit oder Ernährung, Erziehung oder Partnerschaft, Midlife Krise oder Ruhestandsbeginn, Urlaubsgestaltung oder Erfolg im Geschäftsleben, spirituelle Vertiefung oder Ordnung im Büro - für jedes Problem, jede Lebenslage gibt es einen Rat, für jeden Vorsatz eine Anleitung zur Umsetzung. Zwischen zwei Buchdeckel gebunden oder als Hörbuch auf CD gepresst gibt es die ultimative Hilfe für die großen und kleinen Sorgen, Verlegenheiten und Probleme.

Hier ein Auszug aus den aktuellen Titeln, die sich schon beim ersten Klick einer Online-Suche ergeben:

• Endlich in Frieden mit den Eltern
• Schluss mit durstig: Weil Jesus allein genügt
• Schluss mit Kummer, Liebes
• Nie mehr müde
• Nie mehr Geldsorgen
• Nie mehr allein
• Nie mehr Haarausfall
• Nie mehr Schulstress

Natürlich muss es schnell gehen

So oder ähnlich heißen die vollmundigen Titel. Natürlich muss der Weg zum ultimativen, nachhaltigen Erfolg schnell gehen. Keine Geduldsübungen bitte, keine langen Wege, Scheitern ausgeschlossen, Erfolg in Rekordzeit: "Verwandeln Sie Ihr Kind in 5 Tagen: Wie Sie die Ansichten, das Benehmen und den Charakter Ihres Kindes in fünf Tagen ändern", "Ein neues Leben in sieben Tagen: Erfahren Sie die Strategien erfolgreicher Menschen für ein erfülltes Leben", "Neurodermitis. Geheilt in 40 Tagen".

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Wer nicht zum Ziel kommt, wem der Erfolg versagt bleibt, wer bleibt wie er ist, ist selber schuld, hat den richtigen Ratgeber noch nicht gefunden, ihn nicht richtig verstanden, nicht konsequent genüg geübt. Wer aus der alten Rille nicht herauskommt, wer scheitert oder trauert, soll das bitteschön erfolgreich, vorbildlich und richtig tun! Auch dazu gibt es längst die entsprechenden Ratgeber: "Schöner scheitern".

Der Diplompsychologe und Theologe Friedhelm Schnieder erlebt immer wieder, dass Menschen mit der von Ratgebern versprochenen Hochgeschwindigkeit auf dem Königsweg zur angeblich nachhaltigen Veränderung ins Stolpern geraten. Viele suchen in der evangelischen Beratungsstelle (Träger ist der Evangelische Kirchenkreis An der Agger), die er als Therapeut leitet, Rat und Hilfe, obwohl oder gerade weil sie schon etliches an Ratgeberliteratur gelesen haben. Wenn der gewünschte Erfolg sich nicht schnell einstellt, verstärkt das vorhandene Selbstzweifel noch, erlebt Schnieder immer wieder.

Entwicklung braucht ihre Zeit - wie der Schmetterling, der nach langer Reifezeit aus seinem Kokon schlüpft.

Er macht Mut, zunächst einmal zu akzeptieren, dass Wandel Weile braucht. "Denn tief eingeprägte Muster und Verhaltensweisen lassen sich nicht schnell ändern", weiß Friedhelm Schnieder. Vielen Klienten falle es schwer, sich dem Zwang zur Selbstoptimierung zu entziehen, der häufig von außen, von Medien, Nachbarn oder aktuellen Trends auf sie zukomme. "Viele Menschen trauen sich selbst nichts zu, obwohl sie auf Nachfrage eine ganze Menge aufzählen können, was sie schon geschafft, bewältigt oder verkraftet haben".

Worin er die Ursache für solch gering ausgeprägtes Selbstbewusstsein sieht?  "Sie trauen sich selbst so wenig zu, weil sie selbst oft wenig Zutrauen erfahren haben", sagt der Diplompsychologe. Wenn er Klienten nach ihren Fähigkeiten und Stärken fragt und nicht bei den von ihnen empfundenen Mängeln und Lücken ansetzt, dann hat diese "Ressourcenorientierung"  für ihn als Theologen und Psychologen etwas mit dem christlichen Glauben zu tun.

"Unheilvoller Zwang zur Selbstoptimierung"

"Dem unheilvollen Zwang zur Selbstoptimierung, der Menschen gnadenlos ein Immer besser immer perfekter abverlangt, kann der Glaube die Aussage entgegen setzten: ‚So wie ich bin, bin ich gut genug. Ich kann darauf vertrauen, dass ich genüge", ist Schnieder überzeugt. Wo Ratgeber dieses positive Selbst-Wertgefühl fördern und stützen, wo sie daran anknüpfen, dass ein Mensch "in Ordnung" ist, können sie seiner Meinung nach gelegentlich auch hilfreiche  Anstöße geben.

Der Pastoraltheologe Paul M. Zulehner sieht einen Grund für die Woge von Ratgebern darin, dass uns weithin die "Daseinskompetenz" abhanden gekommen ist. Wo es aber um Lebensbewältigung und Daseinsgestaltung geht, ist es mit guten Vorsätzen, mit "Ratgebern", Rezepten, Methoden, Kniffen und Werkzeugen nicht getan. Was wir brauchen, ist etwas Tieferes, Gewichtigeres. Und das trägt den weithin in Vergessenheit geratenen Namen: Weisheit und Gnade.

Buch der Sprüche: Themenliste für Ratgeberliteratur

Weisheit kommt zu uns aus den Quellen und "Bodenschätzen" vieler Generationen, Kulturen und religiöser Wahrheiten. Schon im Buch der Sprüche und in der biblischen Weisheitsliteratur sei eine ganze Themenliste für Ratgeberliteratur zu finden. Weisheit allerdings ist von ganz anderer Natur als all die die tools, knowhows und to dos, die für die Umsetzung unserer mehr oder weniger guten Vorsätze in immer neuen Variationen angeboten werden. Solche Weisheit wisse, dass Veränderung Stille, Übung, Geduld und Nachsicht mit sich selbst braucht.

Für den spirituellen Begleiter und Hochschulseelsorger Pierre Stutz zeichnet sich ein glückliches Leben keineswegs durch gelungene Selbstoptimierung aus. Er selbst sei in den Tiefen einer Erschöpfungsdepression schmerzlich mit der eigenen Unvollkommenheit und Verletzlichkeit konfrontiert worden, berichtet er.

Heute ermutigt Stutz sich und andere, sich von der Vorstellung zu verabschieden, vollkommen sein zu müssen. Vielmehr gelte es, die Würde des eigenen Begrenztseins zu entdecken und anzunehmen. Wer Ja dazu sagen könne, dass auch Scheitern, Verwundungen und Verletzungen zum Leben gehören, für den entstehe eine neue Lebensqualität, betont Stutz.