Foto: dpa/Marijan Murat
Ohne Eltern in einem fremden Land
Jugendliche Flüchtlinge in Deutschland
Sie haben sich alleine bis nach Deutschland durchgeschlagen, wissen manchmal nicht einmal, ob ihre Eltern noch leben: Kinder und Jugendliche auf der Flucht. In Deutschland brauchen sie Schutz und Hilfe - und finden Flüchtlingshelfer.
14.12.2013
epd
Martina Schwager

Wenn der 16jährige Amadou die Geschichte seiner Flucht aus Guinea erzählt, bricht ihm der Schweiß aus. Er habe sich politisch engagiert. Polizisten hätten ihn deshalb bedroht, sagt er. Der Vater besorgte ihm dann einen Flug nach Frankreich. Von dort reiste er nach Deutschland. Seit gut einem Jahr lebt Amadou in einer Wohngruppe im Sozialwerk Nazareth in Norddeich. Er besucht die Realschule, spielt im Fußballverein, hat Freunde gefunden. Aber manchmal übermannt ihn einfach die Trauer. Denn er hat nach wie vor keinen Kontakt zu seinen Eltern und seinem Bruder: "Ich weiß nicht, ob sie leben oder tot sind", sagt er und wischt sich mit dem T-Shirt über die Augen.

So wie Amadou kommen nach Schätzungen des Bundesfachverbands Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V. jedes Jahr rund 4.000 jugendliche Flüchtlinge ohne Eltern nach Deutschland. Rund 2.000 stellen laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Asylantrag.

"Die Behörden vor Ort haben zu viel Spielraum"

Von denen, die bleiben, treffen es nicht alle so gut wie Amadou. Immer wieder werden Jugendliche wie Erwachsene behandelt und in Sammelunterkünften untergebracht, wie Kinderrechtler kritisieren. Sie sind dann auf sich allein gestellt, haben keine Möglichkeit zur Schule zu gehen oder eine Ausbildung zu absolvieren.    

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Hintergrund ist der sogenannte Vorbehalt zur UN-Kinderrechtskonvention. Damit weigerte sich Deutschland jahrelang, ausländische 16- und 17-Jährige als Jugendliche anzuerkennen. Jugendliche müssen aber vom Jugendamt in Obhut genommen werden und entsprechende Hilfen bekommen.

Der Vorbehalt wurde zwar 2010 gestrichen. Dennoch wird mit alleinreisenden Minderjährigen noch immer sehr unterschiedlich umgegangen, sagt Barbara Küppers, Kinderrechtsexpertin des Hilfswerks terre des hommes. "Die Behörden vor Ort haben zu viel Spielraum." Ab einem Alter von 16 dürfen Flüchtlinge einen Asylantrag stellen. Spätestens dann werden sie oft wie erwachsene Asylbewerber behandelt. In vielen Kommunen bedeute das: Unterbringung in Sammelunterkünften. Vor allem in südlichen Bundesländern habe sich nach 2010 an dieser Praxis kaum etwas geändert, bestätigt auch der Bundesverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge.

Die Jugendlichen könnten dort auch die Erlebnisse ihrer Flucht nicht verarbeiten, kritisiert Küppers: "Viele sind traumatisiert und brauchen dringend psychologische Hilfe. Denn sie kommen aus Krisengebieten in Afghanistan, Somalia oder Syrien, wo sie die Hölle erlebt haben."

"Wir dürfen nicht alle unter einen Generalverdacht stellen"

So erging es auch Amadous Freund Naser (18). Ein halbes Jahr dauerte seine Flucht aus der iranischen Hauptstadt Teheran. Dorthin war seine Familie aus Afghanistan ausgewandert. Viele Afghanen leben und arbeiten illegal im Nachbarland Iran. Zur Schule gegangen ist Naser nur zwei Jahre. "Ich habe gearbeitet, seit ich zehn war", erzählt der großgewachsene junge Mann. Weil irgendwann die Polizei auf ihn aufmerksam wurde, blieb nur ein Ausweg - Europa. Damals war er 16. Wochenlang schlug er sich alleine durch - durch die Türkei, Griechenland und Italien bis nach Deutschland. In Osnabrück griff ihn die Polizei auf und brachte ihn nach Norddeich. "Das war mein Glück", sagt er.

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Nasers Glück war auch, dass man ihm sein Alter glaubte. In Zweifelsfällen wird in vielen Bundesländern das Alter durch das Handwurzel-Röntgen festgestellt. Denn die Flüchtlinge haben meist keine Papiere dabei. Diese Methode sei jedoch viel zu ungenau und dürfe nicht ohne medizinische Indikation und gegen den Willen der Betroffenen angewendet werden, kritisieren Mediziner und Hilfsorganisationen. Sie werfen den Behörden vor, die Jugendlichen "älter" zu machen.

Barbara Küppers fordert: Denen, die sich als Minderjährige bezeichnen, sollte man Glauben schenken und ihnen in Deutschland eine Perspektive eröffnen. "Wir dürfen nicht alle unter einen Generalverdacht stellen", sagt sie.

Terre des hommes setzt sich seit langem dafür ein, das Alter für die Asylverfahrensfähigkeit auf 18 Jahre heraufzusetzen. Im Koalitionsvertrag haben sich SPD und CDU/CSU nun darauf verständigt, dass es in der kommenden Legislaturperiode eine entsprechende Gesetzesänderung geben soll.

"Wir stehen auf ihrer Seite"

"Als Amadou und Naser hierher kamen, haben sie niemandem vertraut", sagt Klaus Rinschede vom Sozialwerk Nazareth. "Wir müssen allen Neuankömmlingen immer wieder klar machen, dass wir auf ihrer Seite stehen." Im Hilfswerk bekommen sie ein Zimmer, Verpflegung, Kleidung und therapeutische Begleitung. Und vom ersten Tag an gehen sie zur Schule. Rinschede lobt die große Motivation und den Fleiß der Jugendlichen. "Fast alle verlassen unsere Einrichtung mit einem Haupt- oder Realschulabschluss und einem Ausbildungsplatz in der Tasche." Auch Amadou und Naser sind auf bestem Wege.

Einmal im Monat telefoniert Naser mit seiner Familie in Teheran. Er freut sich, die Stimmen von Vater, Mutter und Geschwistern zu hören. Aber die Gespräche machen ihn auch immer sehr traurig: "Mein jüngerer Bruder weint dann immer, weil er so schwer arbeiten muss und nicht zur Schule gehen kann wie ich."