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Das Fest der Liebe ohne Familie
Weihnachten ganz allein? Ohne Familie? Natürlich geht das. Weil Weihnachten nicht unbedingt ein Familienfest sein muss. Wichtiger ist die Botschaft, dass Gott zu jedem Einzelnen kommt.

Der Tannenbaum im Wohnzimmer, bunte Geschenke drunter, Bratenduft aus der Küche. Weihnachten hat für die meisten Europäer viel mit Zuhause und Gemütlichkeit, mit Heimat und Familie zu tun. Alle sind beisammen: Die Eltern, die Geschwister, die Kinder. Zumindest einmal im Jahr – wie schön! Doch was ist mit denen, die niemanden haben oder deren Familie weit weg ist? Weihnachten allein – das muss keine traurige Angelegenheit sein. Zumindest nicht, wenn man den Sinn des Festes genauer betrachtet.

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Wer hat eigentlich diese Form des Feierns erfunden, bei dem es so idyllisch-familiär zugeht? In der Bibel kommt zwar die Kleinfamilie im Stall vor, doch sie ist nicht theologischer Kern der Erzählung. Die Evangelisten Matthäus und Lukas schreiben die Geschichte von Jesu Geburt unterschiedlich auf. Bei Lukas geht es um Gott, der zu den Menschen kommt: Die Geburt im Stall, die Engel bei den Hirten auf dem Feld. Gott macht sich klein, kommt als Mensch in die Welt. Als armer Mensch, als uneheliches Kind, als Heimatloser kommt er zu denen, die draußen sind. Matthäus legt den Schwerpunkt auf Jesu Gottessohnschaft: Gezeugt durch den heiligen Geist, angebetet von den drei Weisen aus dem Morgenland. Das Kind ist der verheißene Messias, von dem die Propheten geredet haben. Weihnachten heißt: Gott selbst kommt zu den Menschen - so könnte man es zusammenfassen.

Neuzeitliche Leitkultur: Vater, Mutter, Kind

Ein Fest der Kirche wurde aus diesem Ereignis erst später. Lukas und Matthäus kannten noch nicht einmal das Datum. Den 25. Dezember als Jesu Geburtstag legte der frühchristliche Theologe Africanus fest, Papst Liberius bestätigte den Termin im Jahr 354. Weihnachten wurde zum Ersatz für das römische Fest des Sol Invictus, des unbesiegbaren Sonnengottes am 25. Dezember. Praktischerweise ließ sich die Lichtsymbolik des Sol anhand von Bibelversen leicht auf Jesus übertragen: "Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen." (Johannes 1,9).

Ein bürgerlicher Weihnachtsabend um 1870

So wurde das römische Reich christlich und das Fest mitten im Winter zu einem Höhepunkt des Kirchenjahres. Zu einem bürgerlichen Familienfest entwickelte es sich – auch wenn der Grund mit der Maria-Josef-Jesus-Familienidylle im Stall gelegt war – erst viel später, nämlich im 19. Jahrhundert. In dieser Zeit war die bürgerliche Kleinfamilie das Ideal des Zusammenlebens: Mann und Frau, zwei, drei Kinder, die gute Stube mit dem Weihnachtsbaum. "Seine große gesellschaftliche Bedeutung verdankt das Weihnachtsfest seit dem 19. Jahrhundert dem Umstand, dass es wesentliche Züge der neuzeitlichen Leitkultur des Bürgertums zur Darstellung bringt", schreibt der Theologe Jan Hermelink.

Die gegenwärtige Weihnachtskultur, so Hermelink weiter, verstärke die "Ausgrenzung nichtfamiliärer Lebensformen". Wer ohne Familie feiern muss, fühlt sich außen vor, weil die meisten Menschen Weihnachten so stark mit der Verwandtschaft verbinden. Doch wenn man diese kulturellen Überformungen des Festes beiseite lässt und versucht, den theologischen Kern von Weihnachten zu erfassen, bleibt vielleicht dieser Satz von Lukas: "Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr." Noch griffiger formuliert Matthäus: Immanuel, "Gott mit uns". Es bleibt nicht weniger als die Botschaft von Gott, der bei den Seinen sein will – und diese Botschaft gilt allen.

Der einzelne Mensch vor Gott

Oder besser: Sie gilt jedem Einzelnen. Gerade diesen Aspekt hat Martin Luther stark gemacht mit der Formulierung: Christus – für dich! Seine reformatorische Erkenntnis fiel zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf den Boden, den Renaissance und Humanismus mit ihrem "Individualisierungsschub" bereitet hatten, schreibt der Theologe Stephan Holthaus. Der Mensch entdeckte sich selbst, "seine Individualität und Einzigartigkeit". Luthers Lehre von der Rechtfertigung allein durch Glauben, allein durch Gnade schließt daran unmittelbar an. "Jeder einzelne kann sich an Gott wenden, sofort, ohne Mittler und ohne die Institution der Kirche", führt Holthaus weiter aus, "Luther löste damit die Frage des Heils von der Mitgliedschaft der Kirche. Damit verstärkte er unbewusst die Individualisierung." Der Mensch steht vor Gott – ob mit oder ohne Familie, ob mit oder ohne Kirche. Gerade zu Weihnachten.

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Diese Erkenntnis macht die Kirche aber nicht überflüssig. Ein Christ braucht eine Gemeinde, die ihn stärkt, mit der er Glauben teilen und praktisch umsetzen kann. Und feiern. So könnte ein individuelles, familienloses Weihnachtsfest gut mit einem Besuch des Gottesdienstes beginnen. Dann ein leckeres Essen, ein Glas Rotwein, Musik, ein gutes Buch. Oder vielleicht ein geplanter Aufenthalt im Kloster, um ganz bei sich und ganz bei Gott zu sein. In der Meditation, ohne Ablenkung durch familiäre Geschenke-Stapel und Christkind-Geklimper, erschließt sich dem einzelnen Gotteskind womöglich viel besser, was das bedeutet: Christus – für mich geboren.