Foto: Josip Regovi?
Osteuropa: Konflikte "im Namen der Familie"
Ein Volksentscheid in Kroatien zwingt das Parlament, eine restriktive Definition der Ehe in die Verfassung aufzunehmen. Für Schwule, Lesbe und Transsexuelle im jüngsten Mitgliedsstaat der EU bedeutet das eine bittere Niederlage. Doch Kroatien steht nicht allein da: Viele Länder Mittelosteuropas haben in den letzten Jahren Diskriminierung und Ausgrenzung alternativer Sexualitätsbegriffe gesetzlich verankert. "Im Namen der Familie" wurden traditionelle Geschlechterrollen in Stein gemeißelt. An der Vorderfront der frauenfeindlichen und homophoben Kampagnen stehen oft die historischen Kirchen der Region. Und die EU bleibt schwach bei der Bekämpfung dieser Tendenzen.

Spätestens seit dem letzten Sommer herrscht in der Zagreber Innenstadt eine seltsam unentspannte Atmosphäre. Auf dem Hauptplatz Bana Jela?i?a ist von der Liberalität und balkanisch-mediterranen Gelassenheit, die das stereotypische Image des Touristenmagnets Kroatien prägen, wenig zu spüren. Mehrere Wochen lang haben Aktivisten und Aktivistinnen konservativer Organisationen an jeder Straßenecke Menschen angesprochen und Unterschriften gesammelt. Ihr Bündnis, "Im Namen der Familie", will unbedingt erreichen, dass eine explizite Definition der Ehe als "Gemeinschaft zwischen Mann und Frau" in die kroatische Verfassung aufgenommen wird.

Marko Jur?i?, Aktivist und Organisator der "Pride Parade" in Zagreb

Jetzt ist es so weit. Über 750.000 Personen hatten die Petition unterschrieben und damit die linksliberale Regierung gezwungen, einen landesweiten Volksentscheid auszurufen, den das kirchennahe Bündnis nur gewinnen konnte. Das Ergebnis fiel aus wie erwartet: Rund zwei Drittel aller Beteiligten sprachen sich am 1. Dezember für die entsprechende Veränderung der Verfassung. Nun wird das Parlament dem Willen des Volks entsprechend die gewünschte Definition der Ehe ins Grundgesetz schreiben. "Es ist das letzte Mal, dass wir der Mehrheit erlauben, die Rechte einer Minderheit mit den Füßen zu treten", schimpfte Ministerpräsident Zoran Milanovi? sichtlich verärgert.

Marko Jur?i? schimpft auch, als er durch die Flaniermeilen der Innenstadt läuft. "Ich schaue mir die jungen Menschen auf der Straße an und muss mich fragen, wer von ihnen mir verboten hat, meinen Partner zu heiraten. Und mir ist übel, wenn ich mich so etwas fragen muss", sagt der schwule Aktivist bitter. Erst im Juni, wenige Tage nachdem Kroatien als 28. Staat der EU beigetreten ist, hatte Jur?i? die Pride Parade in Zagreb organisiert. Es war mit über 15.000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen ein Rekord und großer Erfolg, "die Scham für die Gewaltbilder von dem CSD in Split vor zwei Jahren war fast weggewischt. Kroatien zeigte sich endlich als modernes, selbstverständlich europäisches Land. Und jetzt das!", empört sich der 30-jährige Mann mit tiefen, schwarzen Augen.

Debatten über Geschlechterrollen und Familie

Wenige Meter vom Platz Jela?i?a entfernt, in der Zagreber Kathedrale, macht sich hingegen der Enthusiasmus breit. Vor den Türen des erzbischöflichen Sitzes freuen sich Gläubige über ihren Sieg. In der Kirche beten ganz vorne, wie immer, die Kriegsveteranen in ihren alten Tarnuniformen aus den 1990er Jahren, große kroatische Fahne in der Hand oder am Rollstuhl befestigt. Offiziell will die Katholische Kirche in Kroatien die Initiative "Im Namen der Familie" nicht unterstützt haben, wie die Sprecher des Zagreber Erzbischofs und Primas, Kardinal Josip Bozanovi?, immer wieder betont.

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Das glauben ihnen kroatische Medien und die Zivilgesellschaft ebenso wenig wie die offizielle Behauptung, die Kirche mische sich nicht in die Alltagspolitik ein. Die Nähe der katholischen Hierarchie zu der oppositionellen, manchmal rechtspopulistischen Partei HDZ gilt in Kroatien, ähnlich wie die Nähe zu den erzkonservativen und nationalistischen Veteranenvereinen, als offenes Geheimnis.

Die lange fälligen Debatten über Geschlechterrollen und den Familienbegriff haben endlich auch in Osteuropa ihren Lauf genommen. Nicht nur in Kroatien folgt jedoch auf die ersten, noch unsicheren Schritte in die Richtung einer pluralistischen, modernen Gesellschaft eine massive Gegenreaktion der konservativen Lager, die eine Mehrheit der Bevölkerung mobilisieren können und eben deswegen immer wieder versuchen, die Debatte aus der Öffentlichkeit zu verbannen, indem sie ihre Überzeugungen ins Gesetz oder am besten in die Verfassung schreiben lassen. Den traditionellen Kirchen, in Polen oder Kroatien der Katholischen, in Serbien, Rumänien oder Bulgarien der Orthodoxen, ist diese fragwürdige politische Strategie nicht fremd.

Nationen werden über Religion definiert

Vor allem in den osteuropäischen Ländern, in denen die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung einer einzigen Kirche gehört, wurde die Kirchenzugehörigkeit mit der Moderne zu einem Teil der nationalen Identität, wie der rumänische Historiker Lucian Boia erklärt. "Auf dem Balkan, in diesem Flickenteppich von kleinen Bevölkerungsgruppen, hat man in der Geschichte viel zu lange die Nation über die Religion definiert, was weder der einen, noch der anderen Gutes tut. Eine Aufarbeitung und Überarbeitung der kollektiven Identität, wie in Deutschland ab den 1960er Jahren, hat in Osteuropa nicht stattgefunden. Jetzt rächt sich das und die Mehrheit versucht diejenigen auszuschließen, die von dieser Identität zu offensichtlich abweichen."

Ähnlich wie jetzt in Kroatien wurde auch in Rumänien der traditionelle, heteronormative Begriff der Ehe 2011 gesetzlich verankert, wenn auch nicht in der Verfassung sondern "nur" im  Bürgerlichen Gesetzbuch. Das Orthodoxe Patriarchat in Bukarest begrüßte die Entscheidung. In Serbien fordert die Orthodoxe Kirche immer wieder nicht nur die Diskriminierung von Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen per Gesetz, sondern sogar ein Verbot der CSD-Paraden, die die Rechte der Mehrheit auf ein "normales" Leben angeblich verletzen sollen. Eine dürftige Argumentation angesichts der Tatsache, dass die Kirche z.B. die Gesellschaft gewaltbereiter, rechtsextremer Fußballhooligans toleriert. Doch der öffentliche Druck auf die Regierung hat in den letzten drei Jahren tatsächlich bewirkt, dass die Belgrader CSD-Paraden nicht stattfinden durften.

Mindestmaß an Toleranz

Steuern also die mittelosteuropäischen Länder zurück Richtung Intoleranz, wie in Russland? Und sind dabei die historischen Kirchen die Scharfmacherinnen auf dem Schiffsdeck? Nicht ganz. Anders als Russland sind die Staaten Mittelosteuropas entweder durch ihre Beitrittsverträge und die EU-Gesetze oder zumindest durch ihren EU-Kandidatenstatus daran gehalten, ein Mindestmaß an Toleranz und Liberalität in ihrer Gesetzgebung zu zeigen.

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Ein pauschales Verbot "homosexueller Propaganda" konnte in Litauen nicht durchgesetzt werden. Doch die Eingriffsmöglichkeiten der EU auf diesem Gebiet der Rechte und gesellschaftlichen Leitbilder sind viel begrenzter als die meisten Europäer und Europäerinnen denken. Die Kommission in Brüssel kann paradoxerweise viel mehr unternehmen, wenn ein Mitgliedstaat das kommerzielle Wettbewerbsrecht verletzt, als wenn sich der gleiche Staat plötzlich eine neue Verfassung beschert, in der die Diskriminierung verankert ist.

Und kein anderes Beispiel zeigt das deutlicher als das ungarische. Seitdem der rechtspopulistische Premier Viktor Orbán über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt, vergeht kein Tag, ohne dass ein neuer Schritt hin zu einem autoritären Ständestaat gegangen wird. In der neuen, Anfang 2012 in Kraft getretenen Verfassung ist die Rede von Gott, dem christlichen Erbe Ungarns und der Krone des heiligen König István. Weiter unten wird nicht nur die Ehe restriktiv definiert, sondern die traditionellen Geschlechterrollen werden zum Leitbild für die schulische und sogar frühkindliche Erziehung proklamiert.

Moralische Revolution?

Nicht nur Schwule, Lesben und Transsexuelle sind von Orbáns "moralischer Revolution" betroffen, sondern auch unverheiratete heterosexuelle Paare, alleinerziehende Menschen, Kinderlose, Geschiedene, Singles aus Überzeugung. Ihnen spricht die ungarische Verfassung ein Stück von ihrer Menschenwürde ab, sie genießen etwa im Steuern- und Sozialleistungssystem nicht die gleichen Status wie diejenigen, die in traditionellen Familien leben. Statt die Gleichstellung anzustreben soll jetzt etwa das Bildungssystem so neu kalibriert werden, dass die klassischen Geschlechterrollen gestärkt werden. Leider folgen daraus auch Konzequenzen in allen Lebensbereichen: Rechtskonservative Abgeordnete haben vor kurzem erklärt, dass sie häusliche Gewalt als Kavaliersdelikt betrachten.

Doch wo bleiben die Kirchenvertreter in Ungarn? Manche, wie der methodistische Pfarrer Gábor Iványi, engagieren sich seit Jahren gegen die soziale Politik der Regierung und für mehr Inklusion und mehr Toleranz, für einen breiteren Familienbegriff. "Die Ausgrenzung anderer Menschen kann nicht christlich-demokratisch sein, weil sie nie christlich war", betont er immer wieder. Andere, wie der reformierte Pastor Loránt Hegedüs, begrüßen den konservativen Fahrplan der Regierung und wünschen sich sogar eine Rückkehr zu den guten alten Zeiten des Hitler-Verbündeten und faschistischen Diktators Miklós Horthy, dem neulich mitten in Budapest, auf dem Kirchenhof, eine Statue errichtet wurde. Wieder andere, vielleicht die meisten ungarischen Katholiken und Protestanten, äußern sich nicht zu Orbáns Gesellschaftspolitik. Kein Wunder: Die Regierung hat das Budget der historischen Kirchen um ein Vielfaches erhöht.