Viele Flüchtlinge suchen sich die Bundesrepublik gezielt aus, "weil es ein demokratisches, ein wirtschaftlich starkes, ein christlich geprägtes oder ein Religionsfreiheit gewährendes Land ist". So steht es in der aktuellen Studie "Warum Deutschland?" des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Auch die Bildungschancen und die medizinische Versorgung sprechen sich herum, so dass Migranten ihren Landsleuten nach Deutschland folgen: "Die meisten Asylsuchenden gehen dorthin, wo bereits Kontakte und Anknüpfungspunkte bestehen."
Auch Schlepper und Schleuser erzählen von dem reichen Land im Westen. Deren Informationen sind "teilweise systematisch verzerrt", heißt es in der Studie des Bamf. Das Bild von Deutschland werde "einseitig positiv" dargestellt. So ist zum Beispiel in Tschetschenien das Gerücht entstanden, eine bestimmte Anzahl Tschetschenen werde in Deutschland aufgenommen. "Da heißt es, Deutschland gebe ein Stück Land und Geld", berichtete die Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina im Spiegel.
Nachdem die Zahl der Asylanträge aus der Russischen Föderation von Januar bis September 2013 auffallend hoch ausgefallen war, schaffte es das Gerücht sogar bis in den Bundestag: Die Fraktion der Linken stellte im September eine Kleine Anfrage: "Was ist der Bundesregierung zu den … Gerüchten bekannt, in Tschetschenien sei verbreitet worden, Asylsuchende erhielten in Deutschland ein ‚Begrüßungsgeld‘ von 4000 Euro oder Ähnliches? " Die Bundesregierung antwortete: Es sei "davon auszugehen, dass bei Bewohnern der Teilrepublik Tschetschenien die unzutreffende Vorstellung verbreitet ist", sie könnten in Deutschland "mit zusätzlichen Zuwendungen materieller Art rechnen".
Wer scheitert, schämt sich und taucht ab
Dass das nicht stimmt, merken die Betroffenen erst hier. Laut Gesetz beträgt der monatliche Regelsatz für einen alleinstehenden Asylbewerber oder den "Haushaltsvorstand" einer Familie 354 Euro, Ehepartner und Kinder bekommen zwischen 318 und 210 Euro. Wer in Deutschland kein Recht auf Asyl hat, bekommt gar keine Sozialleistungen, oft noch nicht einmal eine Notunterkunft.
Das betrifft zum Beispiel Arbeitsmigranten aus Afrika. Sie sind in der Regel über Italien oder Spanien eingereist und haben dort bereits Asyl beantragt. Issah Adama aus Ghana ist so ein "Drittstaaten"-Migrant, er hat in Spanien sein Haus verloren. "Ich entschloss mich, nach Deutschland zu gehen, um einen Job zu finden", erzählt er in Frankfurt am Main. "Spanien ist zu hart für mich. Deutschland ist besser. Deutschland kann helfen.“ Während Adama noch Hoffnung hat, klingt sein Landsmann Abu Bakar resigniert. Ein Freund hat den jungen Mann nach Deutschland gelockt. "Vielleicht würde mein Leben hier einfacher, dachte ich. Aber als ich nach Deutschland kam, war es dasselbe wie in Italien: Ich schlief unter der Brücke."
"Viele kommen aufgrund von Falschinformationen, die sie über Deutschland haben", sagt Katharina Vogt, Referentin für Flüchtlingspolitik beim AWO Bundesverband und vorher 25 Jahre lang Flüchtlingsberaterin. "Die Informationen bekommen sie von ihren Verwandten und Landsleuten, die sich nicht trauen zuzugeben, dass es in Deutschland schwer ist. Sie wollen den Eindruck erwecken: Wir haben es geschafft!" Zwar gebe es tatsächlich Erfolgsgeschichten von Migranten, die Geld nach Hause schicken können. Wer das nicht schafft, schweigt lieber: "Es gibt Leute, die ganz unten sind, die keine Chance sehen zurückzugehen. Ein großes Problem ist in solchen Fällen die Selbstachtung", erklärt Bernd Mesovic von Pro Asyl. Als Rückkehrer werde man als gescheitert betrachtet. Die Flüchtlinge tauchen deshalb lieber ab und leben illegal im Elend. Manche tun sogar gegenüber der Verwandtschaft so, als hätten sie Geld, hat AWO-Referentin Vogt beobachtet: "Sie sagen: 'Hier gibt’s dicke Autos', machen ein Foto auf der Straße, schicken das nach Hause und geben einfach ein bisschen an."
Reichtum wird gesehen, Probleme ausgeblendet
Selbst bei Menschen, die sich vor ihrer Ausreise im Internet informieren, ist die Wahrnehmung offenbar nicht selten vom Wunsch gesteuert. "Ich habe viel über Deutschland gehört und im Internet gesehen", zitiert der evangelische Pastor Martin Steinberg, der im Durchgangslager Friedland in Niedersachsen Flüchtlinge betreut, einen Mann aus Eritrea: "Die deutschen Autos sind die besten der Welt. Made in Germany. Da will ich mitmachen und meine Familie zuhause unterstützen." Bernd Mesovic von Pro Asyl kennt das Phänomen: "Die Leute sehen im Internet den Reichtum, und Probleme werden ausgeblendet."
Selbst bekannte Schwierigkeiten halten viele nicht von der Migration ab. Dawid Mehari stammt aus Äthiopien, hat dort für die GIZ gearbeitet und ist jetzt bei der Hilfsorganisation Adra Deutschland Regionalkoordinator für Ostafrika. "Es wird erzählt dass Deutschland ein schwieriges Land ist, dass die Lebensbedingungen für Flüchtlinge einfach hart sind", erzählt er. "Es wird gesagt, dass es Chancen gibt zu überleben und weiter zu kommen, die humanitäre Situation ist gut. Aber man muss lange warten." Realistische Informationen also. Trotzdem flüchten die Menschen - aus reiner materieller Not.
Das gilt auch für Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien, oft Roma. "Bulgarien ist das ärmste Land in der EU", sagt Herbert Heuss, Pressesprecher des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. "Der Migrationsdruck in den Ländern lastet auf allen Menschen, die dort leben, weil im Moment die wirtschaftliche Entwicklung in Bulgarien und fast in ähnlichem Maß auch in Rumänien keine Perspektive bietet." Es seien vor allem die Qualifizierten, die auswanderten, zum Beispiel Ärzte, Akademiker oder Handwerker. Viele von ihnen gingen allerdings auch nach Griechenland, Spanien oder Italien, sagt Heuss. "Deutschland ist nicht das erste Land auf der Wunschliste."
"Es kann nicht schlimmer sein als zu Hause"
Auch aus Serbien kommen Roma aus reiner Armut nach Deutschland, im September 2013 führten Bewerber aus Serbien die Asylstatistik an. "Die Situation in den Slums in Serbien verschlechtert sich so, dass alles besser ist als dort zu bleiben. Da geht man gerne in eine deutsche Gemeinschaftsunterkunft mit acht Leuten in einem Zimmer", sagt AWO-Referentin Katharina Vogt.
"Es kann nicht schlimmer sein als zu Hause", das gilt oft für Flüchtlinge aus Afrika. Ute Schaeffer, Chefredakteurin der Deutschen Welle, hat lange in verschiedenen Ländern Afrikas gelebt hat und weiß, "wie groß die Verzweiflung ist". Die Deutsche Welle versucht, Informationen ins Ausland zu tragen – darüber, wie man in Deutschland ankommt, wie man hier lebt. "Das tun wir mit allen positiven und negativen Aspekten der Einwanderungspolitik", erklärt Ute Schaeffer. Die Programm-Macher der Deutschen Welle überlegen für jede Region: "Was ist der richtige Ausspielungsweg, was ist der richtige Themenmix, wie erreichen wir die Zielgruppe?" In Russland zum Beispiel setzt der Sender auf das Internet, in Afrika auf das Radio.
Ob die Informationen ankommen? Schwer zu sagen. AWO-Referentin Vogt hat da ihre Zweifel. "Ich weiß nicht, ob in einem Slum jemand einen Fernseher hat und Deutsche Welle guckt." Und selbst wenn die Menschen Zugang zu seriösen schriftliche Medienberichten oder Regierungsinformationen über Deutschland hätten: "Schriftliche Infos sind nicht viel wert, man verlässt sich lieber auf mündliche Informationen von Landsleuten."