Zuvielitis im Kinderzimmer
Foto: Francesca Schellhaas/photocase.com
Geschenk mit Zauber - doch viele Kinder bekommen so viel, dass sie ein einzelnes Geschenk kaum mehr zu schätzen wissen.
Zuvielitis im Kinderzimmer
Wie weniger mehr sein kann
Im letzten Jahr durfte, oder besser, musste Jannik (6) im Advent täglich sechs Kalender öffnen: Den mit Schokolade von der Nachbarin, den mit den roten Säckchen von der Patentante, zwei von den Großeltern, einen mit Legospielzeug und einen mit täglichem Mini-Bilderbuch.

"Jannik hat nur noch abgeräumt, gefreut hat er sich eigentlich nicht", erinnert sich seine Mutter. Diese Beobachtung lässt sich durch neuere Hirnforschung untermauern: "Ein Zuviel an Eindrücken lässt uns emotional abstumpfen. Zu viele Eindrücke legen das Lustzentrum des Gehirns lahm, so dass wir uns weder richtig begeistern noch freuen können", erklärt Archibald Hart in seinem Buch "Wer zu viel hat, kommt zu kurz".

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"Zuvielitis" nennt der Mediziner und Kabarettist Eckard von Hirschhausen das Phänomen, dass unsere Gesellschaft alles zu jeder Zeit und im Überfluss anbietet und zugleich den Eindruck vermittelt: Es ist nie genug – zum Zufrieden- und Gücklichsein reicht es nicht. Stetiger Konsum, immer neue Events und jede Menge Medien versprechen Glück, Zufriedenheit, Bildung und Erfolg.

Konsum als erste Bürgerpflicht und stetes Wirtschaftswachstum als Credo macht auch vor den Kinderzimmertüren nicht halt: Kuscheltiere en masse, Puzzles, Konstruktionsspielzeug, eine Flut pädagogisch wertvoller Lernspiele, stapelweise Bücher, Hörbücher und Computerspiele lassen die Spielzeugregale überquellen. Die von Eltern gefürchtete Klage "Ich weiß nicht, was ich machen soll" verstummt dennoch nicht.

Die "Wunderkammer" der Alltagsgegenstände

Kinder brauchen so etwas wie die "Expedition zu den Gegenständen des täglichen Lebens", fordert Donata Elschenbroich. Die Expertin für Bildung in den frühen Jahren ermutigt Eltern, Kinder nicht in die Sonderwelt von gekauftem Spielzeug zu entlassen, sondern sie stärker in den Alltag einzubeziehen. "Kinder brauchen und lieben es, mitmachen und helfen zu dürfen."

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Ob beim Einkaufen und Aufräumen, beim Wäscheaufhängen und Autoputzen, beim Kochen und Backen, beim Laubfegen und Tischdecken: Kindern entdecken gern mit ihren Eltern den ganz banalen Alltag. Denn, so führt Donata Elschenbroich aus: "In den Dingen steckt das Wissen der Welt und die Alltagsgegenstände sind spannender als viele Spielzeuge." Was zum Beispiel kann man mit einer Wäscheklammer alles machen? Wie funktioniert eine Stimmgabel? Was hat es mit einer Wasserwaage auf sich?

"Jedes Elternhaus könnte eine Wunderkammer sein", meint Donata Elschenbroich. Sie erinnert an die "Wunderkammer" des evangelischen Theologen und Reformpädagogen August Hermann Francke (1663 – 1727), der für seine Zöglinge eine Kammer mit alltäglichen und geheimnisvollen Exponaten anlegte, um "über die Welt staunen zu lernen und Gottes Taten zu feiern".

Mehr Matsch statt mehr Medien

Auch der frühe Medienkomsum trägt zur "Zuvielitis" im Kinderzimmer bei. Fernsehen, Computer und Games vertreiben zwar vordergründig die Langeweile und, ja, sie können auch Wissen vermitteln. Sie sorgen aber auch für einen Mangel an Bewegung und machen Kinder zu Stubenhockern. Kinder, die nie im Matsch gespielt und nie im Freien getobt haben, haben es schwer, richtig "geerdet" zu sein.

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Beim Fernsehkonsum können Kinder nicht mitspielen, sie können das Geschehen nicht beeinflussen. Handeln und Gestalten sind nicht gefragt. "Das Fernsehkind wird leicht zum Konsumkind. Weil ihm beim Fernsehen die Möglichkeit fehlt, selbst etwas einzubringen, fehlt ihm das Gefühl, anderen etwas geben zu können. Es bleibt ohne emotionale Bindung", urteilt der Hirnforscher Gerald Hüther.

Er glaubt: Nachhaltig prägt sich nur das ein, was wiederkehrt und was eigene Aktivität erfordert. Neuronale Verknüpfungen und Bahnen entstehen durch Wiederholung und Rituale. Und so gewinnen einfache Freuden an Bedeutung: Die Reime, Fingerspiele und Kinderlieder, die Dämmerviertelstunde bei Kerzenlicht, das Gute-Nacht-Gebet, die Vorlesegeschichte im Advent, der Kakao nach dem Baden am Freitagabend. Das Verkleide- und Verwandlungsspiel, der Spaziergang im Wald und die Kunst, aus einem Stock eine Wünschelrute, einen Zauberstab oder eine Bohrmaschine zu bauen.

Gemeinsam entdecken: Weniger ist mehr

Dass wir uns von einer Zivilisation, die eher eine "Zuvielisation" ist, wohl werden verabschieden müssen, ist für viele Fachleute inzwischen unbestritten. Meinhard Miegel, Mitglied der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität", prognostiziert: "In den wohlhabenden Industrieländern wird der materielle Wohlstand sinken und Umstellungen in unserem Verhalten und in unseren Einstellungen erzwingen."

Das bringt eine riesige Herausforderung für die Erziehung, aber auch für den eigenen Lebensstil mit sich. Angesichts des Klimawandels und der absehbaren Knappheit an Ressourcen wächst bei vielen Menschen die Erkenntnis: Ein "Weiter wie bisher" kann es nicht geben, wenn wir die Schöpfung bewahren und eine "enkelfreundliche" Zukunft gestalten wollen.

Die Herausforderung besteht darin, sich gemeinsam mit den Kindern darauf einzustellen, dass Lebensglück und Lebensqualität nicht im Immer-mehr von Konsum, Mobilität, Kommunikation und Besitz liegen. Die Herausforderung besteht darin, Kinder zu befähigen, Lebenszufriedenheit und Lebensglück auch aus immateriellen Werten wie sozialen Beziehungen, Kontakt zur Natur, Entdeckung der eigenen kreativen Fähigkeiten, Bildung und Glaube zu schöpfen.

Gefragt ist deshalb eine Erziehung, die Kinder zur Mitgestaltung, zum ideenreichen Selbermachen und zum respektvollen und einfühlsamen Umgang mit Mensch und Natur ermutigt und sie für spirituelle Erfahrungen öffnet. Womöglich entdecken Eltern dabei, dass der Abschied von der "Zuvielitis" nicht in erster Linie Verzicht bedeutet. Im besten Fall bringt er auch ein Mehr an Zeit, Ruhe und  Phantasie mit sich.

Übrigens: Janniks Mutter hat für diesen Advent beschlossen: "Es gibt nur einen einzigen Kalender – einen mit Geschichten zum Vorlesen." Den hat sie auf dem Speicher bei ihren Eltern gefunden. Sie hatten ihn aus ihren Kindertagen aufgehoben.