Auschwitz-Prozess
Foto: epd-bild / Gabi Schindler
Mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess begann eine längst überfällige Debatte über die Verbrechen der Nazi-Zeit. Deren juristische Aufarbeitung war bislang eher halbherzig verfolgt worden.
"Sie wählten das Böse"
Vor 50 Jahren begann der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess
Es ist ein kalter Dezembertag, kurz vor Weihnachten. Polizisten und Angeklagte, Richter und Rechtsanwälte, Journalisten und Zuschauer versammeln sich im Sitzungssaal des Frankfurter Römers. An der Wand hängt plakatgroß ein Lageplan des Konzentrationslagers Auschwitz, davor ist das Modell eines Krematoriums aufgebaut.
20.12.2013
epd
Barbara Schneider

In Handschrift hat jemand "Verhandlung gegen Mulka und andere" auf ein Schild an der Eingangstür geschrieben. Am 20. Dezember 1963 beginnt in Frankfurt am Main der Auschwitz-Prozess, der erste große NS-Prozess vor einem deutschen Gericht.

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Auf der Anklagebank sitzen 22 Männer, teils das Gesicht hinter Aktendeckeln versteckt. Darunter sind kaufmännische Angestellte und Ärzte, ein gelernter Klavierbauer, ein Kellner und ein Jurist. Sie werden beschuldigt, aus Mordlust und niedrigen Beweggründen "heimtückisch und grausam sowie teilweise mit gemeingefährlichen Mitteln" in Auschwitz getötet oder "wissentlich Hilfe geleistet zu haben". So steht es im Eröffnungsbeschluss des Landgerichts Frankfurt. Allein 698 Seiten umfasst die Anklageschrift.

"Der Auschwitz-Prozess war der prominenteste NS-Prozess in der Geschichte der Bundesrepublik", urteilt der US-amerikanische Historiker Devin O. Pendas. Mehr als 350 Zeugen, darunter 211 Auschwitz-Überlebende, schildern an 183 Verhandlungstagen die Gräueltaten in dem Vernichtungslager. Sie berichten von den Selektionen an der Rampe, den Gaskammern, von Folter, Erschießungen an der schwarzen Wand und der Ermordung von Häftlingen durch Injektionen mitten ins Herz. Nach heutigem Forschungsstand kamen in Auschwitz rund 1,1 Millionen Menschen ums Leben.

Fast alle geben sich unschuldig

Einer der Hauptzeugen im Prozess ist Hermann Langbein, der in dem Vernichtungslager als Häftlingsschreiber Totenscheine ausstellen musste. "In Auschwitz saßen wir Tag und Nacht schichtweise an sieben Schreibmaschinen und schrieben Totenmeldungen", schildert der kommunistische Widerstandskämpfer. Ein anderer Zeuge, der tschechische Häftling Filip Müller, beschreibt die Arbeit im Sonderkommando des Krematoriums: "Vielleicht 700 angezogene Leichen lagen dort, Kinder, Frauen, Männer, neben ihnen Pakete. Rechts von dieser Stelle lagen noch etwa 100 Menschen. Es lagen zerstörte Koffer, Brot, Kleider herum, alles voll Blut. Wir mussten die Leichen ausziehen".

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Im Prozess, den der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968) maßgeblich angestoßen hatte, geht es auch um die Persönlichkeitsstruktur der Täter. "Unter den SS-Leuten gab es nur fünf bis zehn Prozent Sadisten, Triebverbrecher im klinischen Sinn", sagt die Zeugin Ella Lingens, politischer Häftling in Auschwitz, vor Gericht aus. Die anderen seien sehr wohl imstande gewesen zwischen Gut und Böse zu wählen. "Sie wählten das Böse."

Demgegenüber geben sich fast alle Angeklagten unschuldig, verharmlosen ihre Taten. Der Hauptangeklagte Robert Mulka, Adjutant des Lagerkommandanten und beteiligt am Bau der Gaskammern, erklärt: "Ich persönlich habe von Exekutionen im Lager nichts gehört, nichts gemeldet, nichts befohlen". Einzig Hans Stark, Leiter der Häftlingsaufnahme in Auschwitz, zeigt Reue. "Heute weiß ich, dass die Ideen, an die ich geglaubt habe, falsch sind", sagt er in seinem Schlusswort. "Ich bedaure meinen damaligen Irrweg sehr, aber ich kann ihn nicht ungeschehen machen."

Die Urteile waren milde

Der Auschwitz-Prozess, an den sich fünf Folgeprozesse anschlossen, steht in einer Reihe mit weiteren großen Prozessen zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen: Den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, die 1945 begannen, und dem Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961. Anders als in Nürnberg und Jerusalem, wo auch Todesurteile gesprochen wurden, fielen die Urteile in Frankfurt vergleichsweise milde aus. Die Frankfurter Richter verurteilten sechs Angeklagte zu lebenslanger Haft, elf erhielten Freiheitsstrafen zwischen dreieinviertel und vierzehn Jahren. Drei Angeklagte wurden freigesprochen. Zwei waren aufgrund von Krankheit ausgeschieden.

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Kurz nach dem Prozess war das Echo auf diese Urteile weitgehend positiv. Bis heute kritisieren Wissenschaftler jedoch immer wieder die sogenannte "Gehilfenrechtsprechung", bei der zehn Angeklagte trotz der Beteiligung am Mord an Tausenden Menschen mit milden Haftstrafen davonkamen. Victor Capesius etwa, der als KZ-Apotheker an den Selektionen beteiligt war und sich an den Habseligkeiten seiner Opfer persönlich bereichert hatte, wurde wegen Beihilfe zum Mord nur zu neun Jahren verurteilt. "Mit dem Auschwitz-Prozess stießen Recht und Justiz an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, auf systematischen Völkermord angemessen zu antworten", urteilt Pendas rund 50 Jahre nach dem Prozess.

Und doch hatte der Prozess weitreichende Konsequenzen: "Das Bewusstsein, dass Auschwitz ein Vernichtungslager war, wurde durch den Prozess in die Öffentlichkeit getragen", sagt der stellvertretende Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, Magnus Brechtken. Werner Renz vom Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt erläutert: "Bis zu diesem Prozess hat es in der Bundesrepublik kein oder nur rudimentäres Wissen gegeben." Heute steht Auschwitz als Synonym für die Verbrechen in Nazi-Deutschland.