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90. Psalm
Lehre uns besprechen, dass wir sterben müssen
Wie eine Familie sich auf den Tod vorbereitet
"Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden", heißt es im 90. Psalm. Sich mit dem eigenen Sterben zu beschäftigen, fällt den meisten Menschen schwer. Darüber zu reden, erst recht. Dabei wäre es sinnvoll, in der Familie gemeinsam über Themen wie Beerdigung, Organspende und Sorgerecht nachzudenken. Was sollten meine Angehörigen wissen, falls ich sterbe?

Zuhause bei Familie Hetzel in Frankfurt am Main. Dagmar Hetzel (58) und drei ihrer sechs Kinder sitzen zusammen, Tochter Andrea Stevens stapelt Organspendeausweise, Todesfall-Checklisten und Notfallpässe auf den Wohnzimmertisch. Die 34-jährige will reden. Für den Fall der Fälle soll alles vorbereitet sein. Zwar ist niemand in der Familie krank – doch man weiß ja nie. Auch mit Anfang 20 kann der Tod plötzlich kommen, das hat ihre Schwester Anna (21) im Freundeskreis erlebt. Auch mit Mitte 30 kann ein Mensch sterben, daran mag die ältere Schwester Stephanie (36) gar nicht gern denken. Ihr Sohn Jan ist mitgekommen, er ist fünf Jahre alt.

Vor kurzem waren sie gemeinsam auf einer Beerdigung. Auf der Rückfahrt im Auto war das Thema wieder da: "Wir haben die Notwendigkeit gesehen, sich im Vorfeld Gedanken zu machen: Was passiert, wenn jemand plötzlich stirbt?", sagt Dagmar Hetzel. Eigentlich wissen sie das schon lange: Vor 17 Jahren starb der Vater im Alter von 45 Jahren. Andrea Stevens erinnert sich: "Weil er erkrankt war, hat unser Vater sich viel Zeit genommen. Er hat uns damals immer gesagt, wir müssen gewisse Sachen aufschreiben, und keiner hat’s gemacht."

Zu jung, zu sehr mit Leben beschäftigt, keine Zeit

Warum nicht? "Das Leben hat ja gerade erst angefangen", sagt Anna, die Zweitjüngste. "Ich bin ja noch Studentin und ich stecke eigentlich noch nicht mal so richtig mitten im Leben, sondern komme erst aus der Schule und bin jetzt an der Uni. Da denkt man noch nicht so weit." Doch in der Lebensphase, die danach kommt, wird es nicht anders sein. Berufseinstieg, Familiengründung – Stephanie Hetzel kann ein Lied davon singen: "Das Leben ist gerade so präsent, dass ich mir gar keine Zeit nehme, über das Thema Tod nachzudenken. Die jetzigen Themen sind akut. Vielleicht verdräng‘ ich dadurch auch den Tod."

Familie Hetzel redet über den Tod und bleibt dabei ganz heiter. Von links: Die Schwestern Stephanie Hetzel, Anna Hetzel und Andrea Stevens mit ihrer Mutter Dagmar Hetzel.

"Es sind eigentlich zeitliche Probleme, die einen hindern", sagt Mutter Dagmar Hetzel. "Meine Idee ist: Alle ein Wochenende irgendwo hin einzuladen und sich dann mit diesem Thema zu beschäftigen. So wie man eine Freizeit machen könnte an Ostern zum Thema Auferstehung, so könnte man ein Wochenende verbringen zu Thema Tod und Sterben." In dieser Familie wäre eine solche "Klausurtagung" sogar vorstellbar, denn alle reden offen miteinander und haben keine Berührungsangst beim Thema Tod.

Nicht allen Familien fällt das Reden über den Tod so leicht, weiß Kristiane Voll, Pfarrerin in der Kirchengemeinde Remscheid-Lüttringhausen und Ansprechpartnerin auf der Internetseite trauernetz.de. Bei vielen Menschen stehe unbewusst ein "magisches Denken" über den Tod im Hintergrund: "In dem Moment wo ich über das Thema rede, da kommt es. Also red' ich  nicht darüber, denn ich will den Tod ja nicht herbeireden." Man könne niemanden dazu zwingen, sagt Kristiane Voll. Doch sinnvoll sei es allemal, sich in der Familie über Organspende, Beerdigungswünsche und Sorgerechtsfragen zu verständigen.

Ein heiteres Gespräch über Beerdigungswünsche

Die Trauer-Expertin empfiehlt, eine geeignete Situation abzuwarten – zum Beispiel nach einer Beerdigung. Wenn Eltern dem Gesprächswunsch ihrer Kinder über das Thema Sterben ausweichen, solle man nicht aufgeben, sondern das Gespräch auf später verschieben – also Bedenkzeit geben und deutlich machen: "Für mich wäre es schon wichtig, das von euch zu wissen." Kommt ein Gespräch überhaupt nicht in Gang, könne man die Eltern "bitten, dass sie das vielleicht mal in einer stillen Stunde auf einen Zettel schreiben und hinterlegen", rät Kristiane Voll.

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Doch die Wünsche ausschließlich schriftlich festzuhalten, reicht nicht. Das wird oft bei Trauerfällen in Familien deutlich: "In der Generation, die in den dreißiger Jahrgängen geboren ist, kommt ganz oft: 'Ich will meinen Angehörigen nicht zur Last fallen.' Die Konsequenz, die sie daraus ziehen, ist, dass sie eine anonyme Bestattung möchten", erzählt Kristiane Voll. "Die Angehörigen fallen dann aus allen Wolken und sind hin- und hergerissen zwischen: Geb' ich jetzt dem Wunsch der Eltern nach, so wie die das festgehalten haben, oder sag ich: Nein, für mich brauche ich ja einen Ort, wo ich mal hingehen kann." Es sind die Angehörigen, die das Grab brauchen – nicht die Verstorbenen.

Dagmar Hetzel geht oft zum Grab ihres Mannes, pflanzt neue Blumen, schaut, dass alles schön ist. "Ich möchte eigentlich nicht feuerbestattet werden, ich möchte in Papas Grab", sagt sie zu ihren Töchtern. Die nehmen den Wunsch zur Kenntnis und nicken. Für ihre eigene Beerdigung denken die beiden älteren auch in die Richtung "nicht zur Last fallen": Stephanie Hetzel regt sich darüber auf, wie teuer Beerdigungen sind und sagt, sie sei für sich mit einem billigen Pappsarg einverstanden. Andrea Stevens möchte den Angehörigen die Grabpflege ersparen und wünscht sich eine Steinplatte auf ihrer letzten Ruhestätte. Anna Hetzel hat bisher nur den Wunsch, auf ihrer Beerdigung möge das Lied "Hurt" von Johnny Cash gespielt werden. Das Gespräch verläuft heiter, fast lustig  – vielleicht ist das Reden über die eigene Beerdigung gar nicht so schwierig, solange niemand akut vom Tod bedroht ist. 

Wer soll sich um die Kinder kümmern?

Einen Kloß im Hals bekommt Dagmar Hetzel allerdings bei dem Gedanken, eins ihrer Kinder könnte vor ihr sterben. "Das wäre glaube ich nicht so einfach. Also… ich weiß nicht, da würde ich bestimmt dran zu knapsen haben." Zusätzlich zum Schmerz käme möglicherweise eine neue große Verantwortung auf sie zu: "Ich habe zwei allein erziehende Töchter. Wenn denen etwas passiert, was ist dann mit meinen Enkeln? Was hat meinetwegen Stephanie für Vorstellungen oder Jans Papa? Das sind schon so Dinge, die man einfach mal besprechen müsste."

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Falls sorgeberechtigte Eltern sterben, entscheidet ein Familiengericht, wer die Vormundschaft über ein minderjähriges Kind bekommt. "Was bei vielen immer mal wieder so im Kopf ist, ist: Übernehmen denn dann die Paten das Sorgerecht? Das ist Quatsch!", warnt Pfarrerin Kristiane Voll. Es sei denn, die Eltern benennen zu Lebzeiten ausdrücklich die Paten. Denn Eltern haben ein Benennungs- und ein Ausschlussrecht darüber, wer im Fall der Fälle Vormund ihrer Kinder sein soll. Manche benennen ihr Geschwister, also Onkel und Tanten der Kinder.

"Wichtig, dass man mit dem Menschen, dem man dieses Vertrauen schenkt, spricht: Wärst du denn bereit, unsere Kinder aufzunehmen?", so der Rat von Iris Egger-Otholt, Juristin beim Landesjugendamt Rheinland-Pfalz. "Wenn klar ist: Die Schwester weiß, was auf sie zu kommt, dann ist das für das Gericht einfacher." Doch ein Automatismus ergibt sich daraus nicht: Selbst wenn die Entscheidung der Familie schriftlich hinterlegt wurde (am besten beim Notar oder zu Hause bei der Familienurkunde), überprüft das Familiengericht noch einmal, ob der benannte Vormund in der Lage ist, Kinder aufzunehmen. Jugendliche ab 14 dürfen widersprechen, wenn sie zum Beispiel sagen: "Nee, mit der Tante versteh ich mich überhaupt nicht."

Nach der Abschiedsfeier geht das Leben weiter

Neben den Sorgerechtsfragen und der Gestaltung der Beerdigung sollte auch über Patientenverfügung und Organspende gesprochen werden. Hilfreich ist es außerdem, Adresslisten zu schreiben und eventuell ein Testament. Dagmar Hetzel blickt auf den Papierstapel, den ihre Tochter Andrea mitgebracht hat. "Wenn man das gemacht hat, ist man wahrscheinlich auch gelassener", meint sie. Doch über mangelnde Gelassenheit kann sich die 58-jährige eigentlich nicht beklagen. "Für mich ist wichtig zu wissen, mein Leben - und auch das Leben meiner Kinder - steht letzten Endes in Gottes Hand. Sowohl das Leben als auch das Sterben", sagt sie und lächelt.

Beim Nachdenken über den Tod hilft es Dagmar Hetzel, daran zu glauben, dass danach nicht alles vorbei ist. Sie erinnert sich an die letzten Lebenstage ihres Mannes, der diesen Glauben auch hatte: "Mein Mann hat ganz bewusst zu einer Abschiedsfeier eingeladen. Er hat gesagt: 'Ich möchte all die Leute nochmal sehen, bevor ich gehe.'" Zehn Tage später war es soweit. "Ich weiß noch, an dem Morgen, an dem er gestorben ist, hat er gesagt: Ich gehe jetzt in den Himmel." Es war alles besprochen, alles vorbereitet. "Und Anna ist in den Kindergarten gegangen und hat gesagt: Mein Papa ist heute Morgen in den Himmel gegangen."