Seit der NDR vor drei Jahren sein neues "Polizeiruf"-Team eingeführt hat, bestechen die Folgen durch doppelte Spannung: weil beide Hauptfiguren ein Geheimnis umweht. Gleiches gilt für das Dortmunder "Tatort"-Team und hier vor allem für den Chef, Peter Faber (Jörg Hartmann). Der Mann benimmt sich wie ein Soziopath und macht dabei keinen Unterschied zwischen Verdächtigen und Mitarbeitern. Allerdings nicht ohne Grund: Vor seiner Versetzung nach Dortmund sind Frau und Tochter bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Irgendjemand hat Faber Fotos zugespielt, die andeuten, dass die beiden danach noch gelebt haben. Aus Sicht eines Autors besteht die Kunst nun darin, die Fortsetzungsebene – Fabers Trauma – mit Fällen zu verknüpfen, die nicht weniger spannend sein dürfen als der horizontale Erzählstrang. Das ist Jürgen Werner, der auch die Drehbücher für die beiden ersten Auftritte der Dortmunder geschrieben hat, diesmal nur bedingt gelungen.
Fesselnde soziale Komponenten
Ohne Frage reizvoll ist die Spiegelung des Teams im aktuellen Fall: Ein junges Mädchen aus problematischen Verhältnissen hat Beziehungen zu jungen Leuten aus einem Villenviertel geknüpft und auf diese Weise ein Doppelleben geführt. Mit Ausnahme Fabers, der im Grunde gar kein Leben führt, gilt das gleiche für das Ermittlerquartett: Kollegin Bönisch (Anna Schudt) kompensiert ihre Beziehungsprobleme mit einem Callboy, das junge Pärchen Nora und Daniel (Aylin Tezel, Stefan Konarske) versucht mehr oder minder erfolglos, Arbeit und Beruf voneinander zu trennen. Die mal mit-, mal gegeneinander wirkenden Kräfte innerhalb des Ermittler-Teams sind allerdings viel interessanter als die Suche nach dem Mörder des Mädchens, zumal man ohnehin bald ahnt, dass der Täter ein Mitglied ihrer Clique aus Reichen und Schönen ist.
Viel fesselnder als die kriminalistischen Aspekte sind daher die sozialen Komponenten, aus denen Werner seine Geschichte zusammensetzt; und spätestens jetzt zeigt sich die Qualität von Regisseur Andreas Herzog, der auch schon einige herausragende Beiträge zur ZDF-Krimireihe "Unter Verdacht" inszeniert hat (zuletzt "Ohne Vergebung"). Seine Darstellerführung ist exquisit, sein Gespür für atmosphärische Zwischentöne bemerkenswert. Auch davon profitieren die Darsteller natürlich, und langsam gewöhnt man sich auch daran, dass Instinktmensch Faber mit Bönisch ohne Vorwarnung ins Rollenspiel verfällt und zum Befremden der Kollegen in der Tiefgarage des Präsidiums eine Vergewaltigung rekonstruiert. Jörg Hartmann füllt diese Rolle beinahe beängstigend gut aus. Außerdem gelingt ihm das Kunststück, dass man auch dann noch vor allem Mitgefühl für Faber verspürt, wenn der wieder mal einen Tobsuchtsanfall bekommt und ein Waschbecken zertrümmert. Mit anderem Darsteller und bei anderer Inszenierung könnte so was auch lächerlich wirken; dank Hartmann ist es vor allem tragisch.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dass Hartmann derart aus dem Ensemble herausragt, ist mit der Komplexität seiner Rolle nur unzureichend erklärt. Hinzu kommt, dass er scheinbar mühelos eine Herausforderung bewältigt, an der selbst namhafteste Kollegen scheitern: Bei ihm klingt es authentisch, wenn er die Sprache der Straße spricht. Davon hat schon der zweite "Tatort" aus Dortmund, "Mein Revier", profitiert. Hier macht sich das vor allem in den Szenen mit dem trauernden Vater des ermordeten Mädchens bemerkbar. Die schönsten Momenten des Films sind ohnehin jene, in denen die Polizisten Menschen, die große Schuld auf sich geladen haben, tröstend in den Arm nehmen.