Auch das ist ein Qualitätsmerkmal einer Geschichte: Wenn man das Ende ahnt, aber trotzdem von der Entwicklung überwältigt wird. Siegfried Lenz’ 1999 erschienener Roman "Arnes Nachlaß" ist unsagbar traurig, doch die Verfilmung ist womöglich noch erschütternder. Das Werk setzt die Tradition der ausnahmslos ausgezeichneten Lenz-Adaptionen des NDR mit Jan Fedder in der Hauptrolle fort ( "Der Mann im Strom", "Das Feuerschiff", "Die Auflehnung"). Die Regie hat bislang stets gewechselt (diesmal Thorsten Schmidt), doch die Adaption oblag jedes Mal Lothar Kurzawa. Es ist ihm auch diesmal wieder gelungen, die Handlung filmgerecht zu bearbeiten und der Vorlage dennoch treu zu bleiben.
Das verdrängte Trauma
Die Geschichte beginnt wie ein Horrorfilm: Eine Familie sitzt beim Abendessen. Ein Junge bekleckert sich und verlässt den Tisch. Als er zurückkehrt, sind alle tot. Später stellt sich raus, dass der Vater beim erweiterten Suizid Frau und Kinder mit ins Grab nehmen wollte. Arne (Max Hegewald) aber überlebt und wird von Harald (Jan Fedder), dem besten Freund seines Vaters, aufgenommen. Der Junge hat das erlebte Trauma verdrängt, er integriert sich in die neue Familie. Nach und nach aber schließt sein Gedächtnis die Lücke, und je lebendiger die Erinnerung an das Sterben seiner Familie wird, um so näher, der Titel deutet es an, rückt auch Arnes Tod.
Kurzawas Änderungen des Handlungsgerüsts sind ausnahmslos plausibel. Die Rolle des Ich-Erzählers hat nun nicht mehr Haralds ältester Sohn Hans (Dennis Mojen) inne, der für Arne wie ein großer Bruder wird, sondern Harald selbst, so dass Fedder mit seiner wunderbaren Stimme durch den Film führen kann. Außerdem hat Kurzawa Arne ein paar Jahre älter gemacht. Auf diese Weise bekommen seine Gefühle für die Haralds Tochter Wiebke eine erotische Komponente. Wiebke hat er seiner Welt den Platz der geliebten Schwester zugedacht, die immer wieder als Vorbotin des tragischen Schlusses in seinen Halluzinationen auftaucht. Wie alle jugendlichen Darsteller hat Schmidt auch Franziska Brandmeier hervorragend geführt, zumal sie die rebellische rothaarige Wiebke ausgesprochen facettenreich verkörpert: mal als zärtliche Freundin, mal als berechnende Verführerin; die junge Frau ist ein böses Mädchen.
Herausragend aber ist die Leistung des Hauptdarstellers. Max Hegewald hat schon in "Keine Angst" sowie als Krebspatient in dem Drama "Der Mauerschütze" prägnante Akzente gesetzt. In "Arnes Nachlass" meistert er eine enorme Herausforderung, und das nicht bloß, weil er den Film trägt. Einerseits muss er durch die Handlung wandeln, als sei er nicht von dieser Welt; ein hochintelligenter Sonderling, der vermutlich auch vor dem Schicksalsschlag schon Außenseiter war. Andererseits durfte er Arne nicht als Autisten verkörpern, zumal ihm ja scheinbar die Rückkehr in die Normalität gelingt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Großen Anteil an dieser gelungenen Gratwanderung haben neben Schmidts feinem Gespür für Nuancen Hannes Hubachs Bildgestaltung und die Musik von Jörg Lemberg. Hubach versieht die Bilder mit einer für Fernsehfilme ungewöhnlichen Tiefenschärfe, so dass die Außenaufnahmen stets weite Blicke ermöglichen. Gerade die dialoglosen Szenen, wenn die Jungs zum Beispiel mit dem Boot durch den Hafen tuckern, wirken auf diese Weise ungemein intensiv. Lemberg wiederum hat Melodien gefunden, die nie sentimental, aber immer angemessen klingen. Eines der besten Dramen des Jahres; und ganz sicher das traurigste.