Frau Bahr, Sie haben viel mit den Kreativen und Intellektuellen unserer Gesellschaft zu tun. Was erwarten die von der Kirche?
###mehr-personen### Petra Bahr: Viele wünschen sich überzeugende protestantische Persönlichkeiten, die vertreten, woher sie kommen und was ihr Leben bewegt – Menschen, mit denen sie im Zweifel auch streiten wie die Kesselflicker! Sie wünschen sich gastliche Räume, die sich vom Wohnzimmer oder einer Galerie unterscheiden, weil in ihnen etwas anderes zur Sprache kommt, weil in ihren dicken Mauern etwas gespeichert ist an Lebenskraft und Lebensverzweiflung. Und sie wünschen sich eine Sprache, die mehr von der dichterischen Kraft der religiösen Quellen lebt als vom Jargon.
Werden diese Erwartungen erfüllt? Oder fehlt ihnen das gewünschte Gegenüber?
Bahr: Beides. Es gibt einen gewissen Fatalismus im Blick auf organisierte Religion, aber zugleich eine große Faszination sowohl gegenüber theologisch-existenziellen Fragen als auch christlichen Persönlichkeiten, von denen sie den Eindruck haben: "Die bewegen was!" Das sind oft gar nicht die Bischöfe, sondern zum Beispiel Pastoren an den Orten, wo sie leben. Oder Menschen aus der Nachbarschaft. Figuren, die sich ganz weit außerhalb der Kirche bewegen und gerade deswegen als Christen identifiziert werden.
2017 soll das Reformationsjubiläum stark in den Blick der Öffentlichkeit gerückt werden. Wie lässt sich verhindern, dass das zu einer Selbstbeweihräucherung der Lutheraner oder der Protestanten verkommt?
Bahr: Aktiv kann man das gar nicht mehr verhindern. Aber man kann Menschen motivieren, sich des Themas selbst anzunehmen. Denn am Schluss lebt alles davon, dass Menschen 2017 als ihren Erinnerungsort entdecken, wo sie nochmal neu über ihre religiöse Prägung nachdenken. Und wo sie sich – vielleicht auch ganz weit außerhalb der Kirche – fragen: Was bedeutet Protestantismus eigentlich? Was kann es heute bedeuten? Was bestimmt unser Leben? Wie können wir die Frage nach der Sicherheit unseres Lebens anders beantworten als dadurch, dass wir eine Versicherung abschließen? Was bedeutet die Grundbotschaft "Du bist gewürdigt jenseits dessen, was du leistest" im Umgang mit denen, die glauben, sie seien gar nichts wert?
"Protestantisches Gedenken heißt ja hinschauen: Wie war es denn genau? Und was ist jetzt?"
Aus religionssoziologischer Sicht könnte man auch die These vertreten: Die Zeit der Jubiläen, die "Gedenkeritis", ist der Anfang vom Ende einer religiösen Bewegung. Man blickt zurück auf bewegte Anfangsjahre – und unter der festlichen Oberfläche ist möglicherweise der Urimpuls bereits erloschen.
Bahr: "Gedenkeritis" kann ich in unserer Kultur überhaupt nicht sehen. Was ich sehe, ist eine kulturelle Amnesie in ganz vielen Fragen, eine geradezu aufgedrängte Vergesslichkeit! Das, woran wir uns erinnern, ist in der Regel gerade eine Woche alt. Wir leben in einer dauererregten, fast hysterischen Gesellschaft, in der das, was vor einem halben Jahr diskutiert wurde, heute schon keiner mehr erinnert.
Welches Gedenken brauchen wir dann?
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Bahr: Ich glaube, dass wir uns zu selten präzise erinnern. Wir lieben es natürlich, uns wohlig nebulös zu erinnern, dass wir irgendwann mal mit etwas ganz Großem gestartet sind. Aber protestantisches Gedenken heißt ja nicht: mythisch verklären, sondern hinschauen: Wie war es denn genau? Und was ist jetzt? Wo wollen wir hin? Gedenkorte sind immer auch ein Ort, wo Zukunft mit bedacht wird. Sonst gibt es ein Immer-so-weiter.
Wie kann die Kirche denn heute heilig sein – und gleichzeitig auf der Höhe der Zeit?
Bahr: Die Höhe der Zeit stellt sich automatisch ein, ich wüsste nicht, wie man der Zeit entgehen könnte. Ich sage das etwas zugespitzt, denn die unterstellte Alternative ist ja immer: "Die einen rennen mit dem Zeitgeist und die anderen, die die wahre Kirche repräsentieren, halten es mit dem Heiligen Geist." Das Problem ist: Es ist gar nicht so einfach zu beurteilen, wo der Zeitgeist heilig und wo er unheilig ist. Deswegen braucht es immer wieder die Momente des Rückzugs, wo die religiöse und die theologische Urteilskraft – die im Protestantismus nie ein einzelner hat, sondern immer nur mehrere – das entscheiden muss.
Wo nehmen wir die Kriterien her, um das zu entscheiden?
Bahr: Die nehmen wir aus dem Evangelium! Und das ist mir ganz wichtig: Wir brauchen heute wieder mehr Mut zur Theologie! Selbst an den theologischen Fakultäten und Predigerseminaren gehen die großen theologischen Debatten immer mehr verloren. Die neue Unmittelbarkeit auch in der Theologie ist ein Reflex auf die kulturelle Amnesie unserer Gesellschaft.
"Ich hab ein Herz für die vermeintlich Lauen, für die Unentschiedenen, die Zögerlichen"
Interne Kritiker wie der Münchner Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf monieren, die Kirche Melanchthons, in der es mal eine Einheit von Glaube und Bildung gegeben habe, senke ihr Anspruchsniveau bedenklich ab. Wie sehen Sie das?
Bahr: Da gebe ich ihm völlig recht. Wir nehmen uns diese Zeit des Nachdenkens nicht mehr. Wahre Bildung zeigt sich ja in der Kunst der Nachdenklichkeit, die sich zwingt, nochmal drei eigene Gedanken zu denken, wenn alle schon sagen: "Du musst dich jetzt entscheiden, wir brauchen jetzt eine Pressemitteilung!" Bildung bedeutet auch Geschwindigkeitsreduktion.
Wie können Christen heute in der Öffentlichkeit verständlich und gleichzeitig belangvoll vom "Reich Gottes" oder von "Kreuz und Auferstehung" reden?
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Bahr: Das ist eine große Herausforderung, auf die es kein Patentrezept gibt. In jedem Falle muss man was wagen, und das bedeutet auch, zu scheitern. Deshalb liebe ich meine Aufgabe so, weil diejenigen, die mein Reden, Predigen und Schreiben im Alltag beurteilen, in der Regel keine Kirchgänger sind. Es sind Menschen, die die hohe intellektuelle und existenzielle und auch sprachliche Erwartungen haben, aber allergisch auf Anpassungsversuche jeglicher Art reagieren.
Was überzeugt diese Menschen?
Bahr: Meiner Erfahrung nach eher die Art des Fragens als saloppe Antworten. Da ist es auch ganz egal, ob das auf RTL2-Niveau geschieht oder fürs FAZ-Feuilleton.
Wie können die Kirchen-Insider den Protestantismus jenseits der Gemeinde besser in den Blick bekommen?
Bahr: Sie werden ihn nicht einbinden können. Warum auch? Aber wir können diesen großen Teil des Protestantismus ernst nehmen. Das heißt: kein Zwei-Klassen-Christentum! Und es heißt: Mut zur Liturgie! Die Kirche muss verlässlich bleiben für Leute, die nur noch selten Berührung mit ihr haben. Das gilt natürlich für Trauerfeiern, für Trau- oder Taufgottesdienste – die dürfen nicht zu einer oberflächlichen Lebensfeier verkommen, sie müssen theologisch stilsicher sein. Und sie müssen wiedererkennbare Elemente haben: "Dieses Lied kenne ich noch von meiner Großmutter!" Es darf auch Neues passieren, aber es braucht immer auch die Momente des Vertrauten.
Und noch etwas: Wenn Kirche in die Öffentlichkeit tritt, sollte sie sich nicht nur zur Sprecherin der Lobbygruppe von Kirchen-Insidern machen, sondern auch die anderen im Blick haben. Ich gebe zu: Ich hab ein Herz für die vermeintlich Lauen, für die Unentschiedenen, die Zögerlichen. Über ihre heißen Herzen wissen wir ganz wenig. Es ist ja vielleicht auch das Vorrecht unserer evangelischen Freiheit, Respekt davor zu haben, dass religiöse Überzeugungen etwas sehr Intimes sind.
Kardinal Martini von Mailand sagte in dem berühmt gewordenen Interview vor seinem Tod 2012: Wir müssen die Glut unter der Asche auffinden, nämlich die Menschen, die "brennen". Die müssen wir aufsuchen, vernetzen, ihnen Gehör schenken.
Wenn ich Ihnen zum Schluss doch noch eine intime Frage stellen darf: Was ist Ihre geistliche Kraftquelle im Alltag?
Bahr: Wenn der Trubel des Alltags über mir zusammenschlagen will, ziehe ich mich zurück in die Kapelle der Versöhnung am früheren Mauerstreifen, ganz in der Nähe meines Berliner Büros. Ich empfinde es als eine große Wohltat, als eine Befreiung der Gedanken vom Alltäglichen, wenn ich zehn Minuten dort sitzen und mich dem Anblick des Kreuzes aussetzen kann. Weil es die Dinge wieder zurecht rückt in die richtige Perspektive.