Foto: Martin Rothe
Der Wirtschaftsethiker Prof. Wolfgang Nethöfel
Nethöfel: "Wir haben einen Megatrend zum Protestantismus"
Wolfgang Nethöfel aus Frankfurt beschäftigt sich mit Themen an der Schnittstelle von Kirche und Wirtschaft. Er hat an der Universität Marburg Sozialethik gelehrt, leitet dort das "Institut für Wirtschafts- und Sozialethik" und hat den Thinktank "Frankfurter QRanftwerk" ins Leben gerufen. Nethöfel meint, dass es der evangelischen Kirche in Deutschland nicht an Spiritualität mangelt. Die Kirche müsse sich aber darauf einstellen, dass ihre Pfarrerinnen und Pfarrer auch für die Finanzen Verantwortung übernehmen müssten, statt für alle Zeiten auf die Kirchensteuer zu setzen.

Herr Professor Nethöfel, Sie engagieren sich unter anderem in einem Thinktank, der sich Gedanken macht über die Zukunft der evangelischen Kirche in Deutschland. Wie sehen Sie deren aktuelle Situation?

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Wolfgang Nethöfel: Wir sind hier – global betrachtet – in einer absolut exotischen Situation: Wir haben in den neuen Bundesländern und in Tschechien die religionslosesten Flecken auf dem ganzen Globus und denken, dies sei der Trend: Dort sähen wir schon die Zukunft, alles würde immer säkularer. Diese Wahrnehmung ist bizarr, weil sie das wesentliche Geschehen gar nicht erkennt.

Welches Geschehen meinen Sie?

Nethöfel: Die am stärksten wachsenden religiösen Bewegungen auf der Welt sind charismatische und Pfingstgemeinden. Die verändern zur Zeit Lateinamerika, Afrika und Asien. Es gibt in China inzwischen mehr Christen als Mitglieder der Kommunistischen Partei. Man kann sagen: Wir haben heute weltweit einen Megatrend zum Protestantismus.

Was ist der Grund dafür?

Nethöfel: Wenn Menschen, die aus traditionell-hierarchischen Dorfstrukturen stammen, in die Großstadt kommen, greift die traditionale Kultur nicht mehr. Die Menschen müssen sich neu orientieren. Sie verlassen die Welt religiöser Fremdbestimmung – etwa durch eine katholische Hierarchie, die mit Sanktionen arbeitet – und gelangen zu einer Verinnerlichung des Glaubens, zu einer freien Vertragsschließung mit anderen Gläubigen. Diesen neuen Großstadt-Glauben feiern sie gemeinsam in protestantisch-charismatischen Freikirchen. Dort finden sie neue Heimat.

"Die Kirche verkündet das große 'Umsonst'. Aber wir verkünden es unter Marktbedingungen!"

Das ist die globale Ebene. Welchen Trend sehen Sie für Deutschland? Wie wird sich zum Beispiel die Beziehung von Staat und Kirche in den nächsten Jahrzehnten entwickeln?

Nethöfel: Vom Grundgesetz her sind die Religionsgemeinschaften in diesem Land ja gut aufgestellt. Die Frage ist, ob uns die Privilegien der Kirche, wie sie aus der Weimarer Zeit übernommen wurden, auch künftig erhalten bleiben. Zum Beispiel dass der Staat für die Kirche eine Steuer einzieht. Ich bin nicht dafür, dass man die jetzige Ordnung ohne Not aufgibt. Aber ich denke, es gehört zu den strategischen Führungsaufgaben, sich auf eine Situation einzustellen, in der es diese Privilegien nicht mehr gibt.

Sehen Sie so eine Situation kommen?

Nethöfel: Ich bin völlig sicher, dass das kommen wird. Die Frage ist: Wann?

###mehr-links### Was macht Sie da so sicher?

Nethöfel: Da müssen Sie sich nur mal die Entwicklung unserer Parteienlandschaft anschauen und über mögliche Koalitionskompromisse nachdenken. Das komfortable Modell, was wir jetzt noch in Deutschland haben, ist aber auch weltweit eine absolute Ausnahme. Wer vorausdenkt, wird sich jetzt schon einmal andere Finanzierungsmodelle anschauen: bei der Kirche von England, bei Freikirchen oder römisch-katholischen Diözesen in Ländern ohne Kirchensteuer.

Gesetzt den Fall, die deutsche Kirchensteuer würde wegfallen: Wie könnten sich die deutschen Landeskirchen dann finanzieren?

Nethöfel: Durch eine Mischfinanzierung aus Spenden, Gebühren und Fundraising-Aktivitäten. Man muss sich aber klarmachen, dass Fundraising sich immer nur langfristig aufbaut. Wenn man jetzt anfängt, wird es mindestens eine Generation dauern, bis da etwas Ähnliches gewachsen ist wie in den USA.

Sie sprechen auch von Gebühren. Wofür würden die dann fällig?

Nethöfel: Das machen ja sehr viele Kirchen weltweit so: Wenn Sie dort heiraten oder jemanden kirchlich bestatten lassen, da zahlen Sie Gebühren für diese kirchlichen Dienstleistungen.

Also für eine Taufe soll man dann Geld zahlen?

Nethöfel: Wenn sie es können. Und das muss gegebenenfalls sozial gestaffelt werden.

Welche theologische Logik steckt hinter diesem Konzept?

Nethöfel: Die Kirche verkündet das große "Umsonst". Aber wir verkünden es unter Marktbedingungen! Das bedeutet doch, unser mittleres Führungspersonal – die Pastoren – muss lernen, erwachsen zu denken. Nämlich: "Ich muss dafür Sorge tragen, an Geld zu kommen, um das große 'Umsonst' der Gnade Gottes unter Marktbedingungen den Menschen zukommen zu lassen, die es brauchen: auch wenn sie dafür nicht zahlen können!"

"Unter der Käseglocke wächst der Schimmel"

Aber ist die Kirche nicht eigentlich der "Anti-Markt"? Können wir nicht froh sein, dass es in unserer marktzentrierten Gesellschaft auch Orte gibt, wo man ohne Vorleistung angenommen wird so wie man ist?

Nethöfel: Ja natürlich! Ich wünsche mir ja auch, dass die Kirchensteuer so lange wie möglich funktioniert, schon damit wir in die Zukunft hineininvestieren. Das muss jetzt geschehen, und das muss das diakonische Potential der Kirche einschließen. Ich bin ja selber Beamter und sehe, dass so eine Großkirche eine Institution ist wie eine Verwaltung. Und ich sehe, dass unter dieser Käseglocke die kirchlichen Führungspersonen, solange es die Kirchensteuer gibt, nicht hingucken müssen, wie das Geld, das sie zur Verfügung haben, überhaupt erwirtschaftet wird. Sie fühlen sich nur für die Verteilung zuständig.

Warum tut dieses System niemandem gut?

###mehr-artikel### Nethöfel: Das bewirkt Entfremdung vom Arbeitsleben. Und es ist organisierte Verantwortungslosigkeit! Unter der Käseglocke wächst der Schimmel, wenn Kirchenpersönlichkeiten meinen, ihr Handeln mit theologischen Argumenten gegen ökonomische Vernunft bewahren zu müssen. Das ist ein Fehlschluss, der durch Budgetverantwortung ersetzt werden muss.

Welche positiven Beispiele haben Sie vor Augen?

Nethöfel: Es ist doch bewundernswert, welche freiwilligen Beiträge die Leute in Freikirchen regelmäßig aufbringen, auch arme Gemeinden, und wie sie damit ihre Kirchenstrukturen und soziale Einrichtungen finanzieren. Oder wie die anglikanische Kirche ohne Kirchensteuern dennoch ihr Profil bewahrt, diakonische Schwerpunkte bildet und Zeichen setzt.

Es ist sicher notwendig, organisierte Verantwortungslosigkeit aufzubrechen. Meine Frage ist nur: Wenn Sie von Gebühren für kirchliche Dienste sprechen – wird da Kirche nicht zu marktkonform gedacht?

Nethöfel: Es geht nicht um Marktkonformität, sondern darum, die Alternative zum Markt auf dem Markt präsent zu machen! Und dafür muss ich Verantwortung übernehmen. Wenn ich nicht will, dass jemand, der mehr Geld hat, mehr geistliche Zuwendung kriegt, dann muss ich als Pfarrer Geld verdienen, damit das nicht so wird!

Oder geistliche Ausstrahlung haben.

Nethöfel: Gut, das setze ich sowieso voraus. Das ist ja nun weniger unser Problem.

"Ich glaube nicht, dass ein Mangel an Spiritualität unser zentrales Problem ist"

Ist das wirklich kein Problem? Einige Gesprächspartner in dieser Interviewserie, zum Beispiel der Leipziger Dichter und Theologe Christian Lehnert, sagen: Wir haben eine evangelische Kirche, die unglaublich viele Aktivitäten entfaltet, aber geistlich fast völlig ausgetrocknet ist. Wenn man das ernst nimmt, stellt sich doch die Frage: Müssten wir Protestanten nicht erstmal die Klappe halten und unsere "Salzkraft" stärken?

Nethöfel: Na, ich habe da so meine Erfahrungen gemacht mit den jungen Theologiestudenten in Marburg. Was da so spirituell und nicht spirituell genannt wird, das ist sehr traditionsabhängig und zum Teil sehr problematisch. Und auch das regelt der Markt in seiner Weise. Jetzt wird verdrängt, dass die Spiritualitätspflege einer verbeamteten Geistlichkeit von anderen bezahlt wird. Später wird offensichtlich werden: Wer spirituell nichts zu bieten hat oder wer so wenig auf sich achtet, dass er sich verzettelt oder ausbrennt: Auch der wird als Marktalternative vom Markt verschwinden.

Ich meine mit meiner Frage nicht die Frömmigkeit im Sinne von fundamentalistischen Zirkeln. Fehlt der evangelischen Kirche nicht die Balance zwischen aktivem und kontemplativen Leben, wie die christlichen Mystiker gesagt hätten? Mein Eindruck ist: Die evangelische Kirche in Deutschland ist gesellschaftlich aktiv, verlautbart viel, versucht sich organisatorisch besser aufzustellen – hat aber ihren Kernbereich, ihre geistliche Kraftquelle, oft aus dem Auge verloren.

Nethöfel: Ich empfinde das nicht so. Aber das ist vielleicht auch eine Generationenfrage. Ich habe ja miterlebt, wie sich die Ausbildung künftiger Pfarrer weiterentwickelt hat – hin zu psychologischer Beratungskompetenz. Was war denn vorher? Dieses karikierte klosterförmige Leben – das ist die schräge Tradition der Bekennenden Kirche! Da hat sich seit den 60er und 70er Jahren psychologisch viel professionalisiert. Ich habe ja selber eine Gestalttherapie-Ausbildung. Was da gelehrt wurde, hat den Gemeinden sicher besser getan als irgendwelche Frömmigkeitsschulen! Ich glaube nicht, dass ein Mangel an Spiritualität unser zentrales Problem ist.