21. Oktober 2013 in Minsk: Feier zum 70. Jahrestag der Vernichtung des jüdischen Ghettos durch die Nazis
Foto: dpa/Tatyana Zenkovich
21. Oktober 2013 in Minsk: Feier zum 70. Jahrestag der Vernichtung des jüdischen Ghettos durch die Nazis
Die vergessenen Holocaust-Opfer in Belarus
Holocaust, Deportation, Zwangsarbeit: Bis heute ist das Gedenken an die Nazi-Diktatur und die Frage nach Opfern in Weißrussland Gegenstand von geschichtspolitischen Debatten. Diktator Alexander Lukaschenko steht für ein äußerst rigides staatliches, ideologisch geprägtes Geschichtsbild, das bestimmte Opfergruppen in den Hintergrund drängt. Deutsche Initiativen wie Aktion Sühnezeichen setzen sich gemeinsam mit weißrussischen Partnerorganisationen dafür ein, dass vergessene Opfer endlich Anerkennung finden.

Frida Reismann steht an einer Erdkuhle unweit einer viel befahrenen Straßenkreuzung im Nordosten der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Das Verkehrsdröhnen, das ohne Unterbrechung über den kleinen Park bis hin zur Senke hinüberschwillt, steht im krassen Gegensatz zum stillen Gedenken an diesem unscheinbaren Ort. Eine Skulptur zeigt eine Reihe ausgehungerter Menschen, die am Grubenrand stehen, ihre Gesichter voller Hoffnungslosigkeit und Angst.

Zeitzeugin Frida Wulfowna Reisman berichtet von ihren Erlebnissen im jüdischen Ghetto in Minsk.

"Dies hier war vor dem Krieg eine Sandgrube. Im Krieg gab es im Ghetto ein Sonderkommando, das jeden Morgen die Leichen aufgesammelt hat. Die Toten hatten vom Hunger furchtbar aufgeblasene Bäuche. Sie wurden dann hierhin transportiert und einfach in die Grube geworfen." Reismann, geboren am 20. Oktober 1935, eine kleine, äußerst energische Frau, wurde mit sieben Jahren ins jüdische Ghetto in Minsk gesperrt. Anders als ihr älterer Bruder hat sie den Terror der Nazis überlebt. Heute ist sie die Vorsitzende des Verbandes der Ghetto-Überlebenden.

1941 überfielen die Deutschen Weißrussland, verbreiteten Terror in der Zivilgesellschaft, verfolgten und ermordeten die jüdische Bevölkerung oder ließen sie im Minsker Ghetto einfach verhungern. Kommunisten und solche, die sie dafür hielten, Kriegsgefangene und wahllos selektierte "Oppositionelle" pferchten sie in Zwangslager, deportierten gar Minderjährige nach Deutschland zum Arbeitsdienst in der Rüstungsindustrie. Historiker schätzen heute, dass es kein Land gab, in denen die Nazis ihren Terror rücksichtsloser und grausamer durchsetzten als in Belarus.

"Die Zeit rennt uns davon!"

"Dieses Denkmal haben wir Juden nach 1953 selbst aufgestellt. Derjenige, der die jiddische Gedenktafel angefertigt hatte, ist damals dafür drei Jahre ins Gefängnis gegangen", erzählt Frida Reismann. Das Gedenken an die jüdischen Opfer wird heute zwar nicht mehr verfolgt wie noch zu Sowjetzeiten unter Stalin. Die weißrussische Geschichtspolitik unter Präsident Alexander Lukaschenko empört die Überlebende Reismann dennoch. "Wie die Vergangenheit heute dargestellt wird, wie immer noch verschwiegen wird! Unser Buch 'Judenfrei' über die Verfolgung der Juden in Minsk hätte der Staat auf eigene Kosten herausgeben müssen. Warum müssen das die Ghettohäftlinge selber tun? Und das Interessanteste: Lukaschenko bat mich um 50 Freiexemplare, obwohl er vorher nicht eine Kopeke bezahlen wollte. Es geht doch um unsere gemeinsame Geschichte, wir waren alle Staatsbürger von Weißrussland. Von uns sind heute nur noch wenige am Leben, die Zeit rennt uns davon!"

Gedenkgrube beim jüdischen Ghetto in Minsk, Weißrussland

Das offizielle weißrussische Geschichtsbild kennt nur die heldenhaften Partisanen und Kämpfer der Roten Armee, die vom Staat gewürdigt werden und Extra-Renten erhalten. Die jüdischen Opfer oder auch Zwangsarbeiter, die nach Deutschland deportiert wurden, werden schlichtweg ignoriert oder gar als Kollaborateure bezeichnet. Sie haben bis heute keinen echten Platz im weißrussischen Geschichtsbild. Manche Opfer des NS-Terrors leben heute oft vergessen, verarmt und vereinsamt. Eine normale monatliche Rente beträgt in Belarus etwa 190 Euro, eine Wohnung in Minsk kostet im Schnitt 320 Euro. In vielen Fällen reicht es nur für eine äußerst bescheidene Existenz in einem einfachen Holzhaus auf dem Land.

Private Gedenkinitiativen, die sich für diese vergessenen Opfer engagieren, wie zum Beispiel die "Geschichtswerkstatt" auf dem Gelände des ehemaligen Minsker Ghettos, gibt es heute vor allem Dank der Unterstützung aus Deutschland. Seit über 10 Jahren setzt sich die Stiftung Erinnerung-Verantwortung-Zukunft (EVZ) in Weißrussland für eine demokratische Gedenkkultur sowie die Entwicklung einer liberalen Zivilgesellschaft und gegen Diskriminierung ein - als wichtigste Lehre aus der Vergangenheit.

Die 18-jährige Linda Förster aus der Nähe von Nürnberg hospitiert seit einigen Wochen in der Geschichtswerkstatt. Über ihre Kirchengemeinde Sankt Sebald fand sie zur so genannten "Nagelkreuzgemeinschaft". Das erste Nagelkreuz entstand aus Zimmermannsnägeln der verbrannten Dachbalken der Kathedrale im englischen Coventry nach den verheerenden Luftangriffen der Wehrmacht. Die weltweite Gemeinschaft mit heute 59 Zentren allein in Deutschland leistet aktive Versöhnungsarbeit. In den kommenden vier Monaten wird Linda in der Geschichtswerkstatt in historischen Unterlagen zum Thema NS-Zwangsarbeit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland recherchieren, die später veröffentlicht werden. "Das Gedenken an die NS-Vergangenheit ist mittlerweile ziemlich verschult", meint die Abiturientin. "Ich wollte einfach selbst direkt aktiv werden."

Als eine Beamtin den Raum betritt, erstarren alle Gesichter

Szenenwechsel: Auf dem Weg nach Borissow, einer kleinen Stadt 90 Kilometer im Norden von Minsk. Eduard Gedroiz ist der Vorsitzende einer privaten Organisation ehemaliger minderjähriger Zwangsarbeiter. In einem unscheinbaren Kellerraum in einer heruntergekommenen Wohnanalage servieren Gedroiz und einige betagte Damen aus dem Opferverein Tee und Plätzchen, präsentieren stolz einfache Püppchen und Häkelwerk, die sie gemeinsam herstellen, um der Einsamkeit zuhause zu entkommen.

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Als eine füllige Dame mit äußerst strengem Gesicht und moderner Hochsteckfrisur den Raum betritt, erstarren die Gesichter der ehemaligen Zwangsarbeiter augenblicklich, keiner spricht mehr ein Wort. Alla Lénkina vom Kreisexekutivkommitee Borissow, zuständig für ideologische Arbeit, stellt sich vor, bittet den Raum jetzt zu verlassen und mit ihr in die nahegelegene Zentralbibliothek zu gehen, dort könne man sich besser unterhalten. Alles sieht danach aus, als ob Lukaschenkos Beamte versuchen, unbeobachtete Gespräche über die staatliche Geschichtspolitik zu unterbinden.

Die gleiche Erfahrung machte auch Anzhela Beljak, die regionale Leiterin der Aktion Sühnezeichen der EKD. Seit sieben Jahren vermittelt die gebürtige Ukrainierin jährlich vier jugendliche Freiwillige aus Deutschland nach Belarus, die sich vor Ort für die Aufarbeitung der Geschichte der ehemaligen Ostarbeiter oder KZ-Häftlinge einsetzen. "Wir betreuen vergessene Zeitzeugen in sozialer und materieller Notlage, besuchen sie zu Hause, führen sie mit anderen Menschen zusammen. Wir haben verschiedene Projekte zur Geschichte machen können - Gespräche, Treffen, Konferenzen. Allerdings dürfen wir bei unseren Treffen keinesfalls über die heutige Politik sprechen. Oder auch über den Zusammenhang von gestern, heute und morgen. Das ist, sagen wir so, nicht erlaubt unter Lukaschenko", sagt die selbstbewusst und offen wirkende junge Frau.

Wie starr das Regime unter Lukanschenko an der einzig offiziellen Wahrheit festhält, hat Anzhela Beljak erst vor wenigen Monaten erlebt. Zwei deutsche Freiwillige von Aktion Sühnezeichen mussten innerhalb von 24 Stunden das Land verlassen, nachdem sie in einer Gesprächsrunde Kritik an der mangelnden Meinungsfreiheit unter Präsident Lukaschenko geäußert hatten. In Belarus wird das Geschichtsbild noch immer mit grobem Pinsel vom Regime gemalt. Und in diesem Bild ist nicht für jeden Platz.