Wenn ihr Arbeitstag beginnt, weiß sie häufig nicht, was sie erwartet - wer noch da ist, wer neu hinzugekommen ist, ob jemand abgeschoben wurde, wie die Stimmung ist. Um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen, muss Anke Leuthold, 38 Jahre alt, durch zwei Schleusen: Die Polizei kontrolliert ihren Ausweis, von der Sicherheitsfirma bekommt sie einen Schlüssel.
Die evangelische Pfarrerin arbeitet seit einem halben Jahr als Seelsorgerin für Flüchtlinge am Frankfurter Flughafen. "Im Transitbereich - ich verlasse praktisch jedes Mal, wenn ich zur Arbeit gehe, Deutschland", sagt sie. Hat sie die Schleusen passiert, überquert sie den Innenhof, vorbei am Basketballkorb, an den Spielgeräten für Kinder. Die Glaszähne, die rundherum am Dach entlanglaufen, sollen vermeiden, dass jemand flieht. Vom Gebäude aus ist es den Flüchtlingen nur möglich, in den Innenhof zu schauen, nach außen haben die Zimmer keine Fenster. "Immerhin, den Himmel können sie sehen. Das ist dort manchmal über Wochen die einzige Perspektive der Freiheit und auch ein Trost für mich". Die Kirche hat in der Flüchtlingseinrichtung am Flughafen ein Gastrecht und besetzt drei Stellen: einen Sozialarbeiter der Diakonie, einen der Caritas und eine Seelsorge-Stelle, die sich die evangelische und die katholische Kirche teilen.
Innerhalb des Wohnheims können sich die Menschen, die hier untergebracht sind, frei bewegen. Doch verlassen können sie das Gelände nicht. Platz für hundert Personen bietet die hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. Derzeit sind 28 Betten belegt, davon sechs von Kindern. Viele Syrer sind da, Afghanen, Iraner. Auch Menschen aus Kamerun und dem Kongo, Nigeria, Eritrea, Somalia, aus Sri Lanka oder Uiguren aus China kommen her. "Dass das Heim voll besetzt ist, habe ich, seit ich hier arbeite, nie erlebt", erzählt Anke Leuthold. Die Fluktuation ist sehr stark, vor zwei Wochen waren 64 Flüchtlinge da, im Moment sei es eher ruhig, berichtet sie. Wenn über einige Tage hinweg zum Beispiel keine Syrer ankommen, dann stellt sich die Frage: Was ist passiert? Sind irgendwo Schleuser aufgeflogen? Oder sind Fluchtwege von Grenzbehörden gekappt worden?
###mehr-info###Seit sie am Flughafen arbeitet, trägt Anke Leuthold viel öfter deutlich sichtbar ein Kreuz: "Als Erkennungszeichen meines Glaubens. Die Menschen hier können mich so leichter als Mitarbeiterin der Kirche zuordnen." An drei Tagen in der Woche ist sie in der Einrichtung. Die Flüchtlinge kommen zu ihr, weil sie zum Beispiel ihre Familie anrufen möchten, aber kein Geld für eine Telefonkarte haben. Oder weil sie gerade ihren Ablehnungsbescheid bekommen haben und das nur schwer verarbeiten können. Verfolgte Christen wenden sich mit religiösen Fragen an sie, Muslime mit der Bitte um einen Koran in der eigenen Sprache. Die meisten Flüchtlinge sind getrennt von ihren Familien, haben Angehörige verloren. Sie beten dann gemeinsam, gehen in die Kapelle, zünden eine Kerze an. Und Anke Leuthold hört zu.
Im Wohnheim werden Menschen vorübergehend untergebracht, die bei der Grenzbehörde um Asyl bitten, jedoch keinen gültigen Pass oder andere Ausweisdokumente vorweisen können. Im sogenannten "Flughafenverfahren", einem beschleunigten Asylverfahren, wird über sie entschieden. In jeweils einer Anhörung der Bundespolizei und einer des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge müssen die Menschen ihre Fluchtgründe erläutern: Während die Bundespolizei nach Informationen über Schlepper fragt, fordern die Sachbearbeiter des Bundesamts eine glaubhafte Darlegung des Asylbegehrens. Dieses Verfahren darf höchstens zwei Tage dauern. Das Bundesamt entscheidet dann, die Einreise zu gestatten oder den Asylantrag als "offensichtlich unbegründet" abzulehnen. Wird der Antrag nicht gewährt, hat die Person drei Tage Zeit, Eilrechtsschutz vor dem Verwaltungsgericht einzulegen, und erhält - für sie - kostenlose Rechtsberatung durch unabhängige Anwälte.
Die Anhörung: viel zu früh!
Die Menschen in der Unterkunft haben ein großes Bedürfnis, zu sprechen. Zu erzählen, was ihnen widerfahren ist. Sie sind verzweifelt, hilflos, verstehen nicht, warum sie in der Einrichtung am Flughafen festgehalten werden. "Aus meinem christlichen Verständnis heraus möchte ich denjenigen eine Nächste und für sie ansprechbar sein. Ich finde es sehr wichtig, dass Kirche das tut", sagt Anke Leuthold. Sie spricht Englisch mit den Flüchtlingen, auch ein wenig Französisch, so kann sie sich mit den meisten Afrikanern, die in der Einrichtung sind, verständigen. Manchmal übernehmen auch Flüchtlinge die Dolmetscherrolle, wenn zum Beispiel jemand Arabisch und Englisch spricht. "Sie freuen sich, wenn sie gebraucht werden – die Tage hier in der Einrichtung können sehr langweilig sein", erklärt Anke Leuthold.
###mehr-artikel###
Zwei oder drei Tage nach ihrer Ankunft in Deutschland werden die Flüchtlinge angehört – viel zu früh, meint die Seelsorgerin: "Die Menschen sind häufig traumatisiert und sind deshalb teilweise nicht so schnell sprachfähig. Doch sie haben nur diese eine Möglichkeit in der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, ihre Fluchtgründe plausibel zu erklären. Davon hängt ab, ob ihr Asylgesuch anerkannt oder abgelehnt wird." Sie müssten, so gut sie können, chronologisch berichten und dürften sich nicht in Widersprüchen verstricken. "Und wir vom kirchlichen Flüchtlingsdienst müssen den Flüchtlingen leider immer wieder klar machen: Wir haben keinerlei Einfluss auf das Verfahren", erklärt Anke Leuthold.
Die Geschichten, die Anke Leuthold hört, lassen sie nicht los. Es sind Geschichten von Krieg, Folter, dramatischen Fluchtwegen. Zum Beispiel die der syrischen Familie: Zu viert versuchten sie mit der Bahn über Istanbul nach Griechenland zu gelangen – an der türkisch-griechischen Grenze sind sie aufgeflogen und zurück gebracht worden. Dann haben sie es über das Wasser probiert: Das Boot sei von Beginn an bereits so überladen gewesen, dass sich Mutter und Tochter geweigert hätten, es zu betreten. Doch eine Alternative gab es nicht. Sie schafften es fast bis nach Griechenland, doch kurz vor dem Ziel wurden sie von der türkischen Küstenwache aufgegriffen und wieder zurückgeschickt in die Türkei. Ein letzter Versuch war nun der Luftweg mit Ziel Frankfurt.
"Ich bete viel. Es hilft, von der Last etwas abzugeben."
Wie kommt Anke Leuthold mit dem klar, was sie hier hört und sieht? Und mit der Ungewissheit, wie es für die Flüchtlinge weiter geht? Sie macht Sport, sucht Ausgleich beim Tanzen und Wandern im Wald. Und: "Ich bete viel. Es hilft, die Last ein wenig abzugeben. Ich vertraue darauf, dass Gott die Menschen immer begleitet. Überall. Trotz allem", sagt sie. Auch die halbstündige Fahrt vom Flughafen nachhause versuche sie zu nutzen, um sich von den Schicksalen zu lösen. "Ich hatte auch schon Phasen, da habe ich auf dem Rückweg im Auto geweint, weil es mich so berührt hat", gibt sie zu. "Aber das ist schon okay, irgendwo muss man ja damit hin."
###mehr-links###
Die Arbeit in der Flüchtlingsseelsorge macht Anke Leuthold auch wütend: Zum Beispiel dann, wenn sie Asylbescheide liest. "Es gibt häufig eine deutliche Diskrepanz zwischen meinem persönlichen Eindruck eines Schicksals und der juristischen Begründung, weshalb ein Mensch nach Rechtslage nicht als asylberechtigt gilt!" Auch Katastrophen wie vor Lampedusa, bei denen hunderte Menschen vor den europäischen Grenzen ertrinken, dürften nicht einfach hingenommen werden, sagt sie. Sie hofft, dass das Prinzip der Dublin-III-Verordnung gekippt wird. Die Verordnung sieht vor, dass Asylanträge nur in dem EU-Land gestellt und bearbeitet werden können, in dem die Flüchtlinge zuerst eingereist sind. Bedenklich findet Anke Leuthold zudem, dass in öffentlichen Debatten Flüchtlinge in erster Linie als Belastung gesehen werden.
Bei ihrer Arbeit versucht sie, die Menschen in der Einrichtung nicht nur als Opfer zu sehen. Sie trifft unterschiedliche Menschen, aus verschiedenen Kulturen und Religionen. "Wir können uns hier gegenseitig viel erzählen von dem jeweiligen Leben und Glauben, was uns Hoffnung gibt, was uns trägt. Diese Vielfalt, die Gott auf der Welt geschaffen hat, empfinde ich als großen Schatz und als Geschenk."