Foto: Ralf Siepmann
Die Kirchenorgel im Reich der Popkultur
Beatles statt Bach, Moody Blues statt Messiaen: Mit der Konzertreihe "Orgel Vision" geht die Dortmunder Lydia-Gemeinde neue Wege mit einem alten Instrument. Mit unkonentionellen Kulturangeboten macht die Gemeinde ihre Pauluskirche zu einem Ort, wo neue Gemeinschaft entstehen kann.

Barbara Lichte-Löbbing hat sich in die erste Reihe gesetzt. Bereits eine halbe Stunde vor Beginn des Konzerts "Orgel rockt" in der Dortmunder Pauluskirche. "Ich finde das Programm äußerst vielversprechend", sagt die Frau aus Reken im Kreis Borken: "Orgel ist für mich Kirche." Auch Besucher Heiner Deutmann ist "wegen der Musik hier". Ihn fasziniere an der Pfeifenorgel der Sound, die ungeheure Spannweite der Klanglandschaften von den opulentesten bis hin zu den leisesten Tönen, sagt er. Außerdem ziehe ihn immer wieder das "besondere Flair" der Kirche in der Lydia-Gemeinde an.

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Deutmann ist zwar Bürger der Westfalen-Metropole, gehört aber nicht zu den rund 8.000 Mitgliedern der Gemeinde in Dortmunds Nordstadt. Er wisse aber aus Erfahrung, dass gerade das Kulturangebot der Pauluskirche attraktiv sei. Marco Steinmüller ist im Internet auf "Orgel rockt" gestoßen. "Eher zufällig", erzählt er. Der Herner hat persönliche Erfahrungen mit dem Themenkreis Kirche und Kultur in der Gemeindearbeit gemacht. "Seitdem interessiert mich immer wieder, was Kirche tut und Ungewöhnliches zu bieten hat".

Die "Königin unter den Instrumenten" mit ungewöhnlichen Partnern

Kurz danach geht's los, das Ungewöhnliche wird wirklich. Strahler lenken die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf die Orgel der Pauluskirche, ein Prachtstück der Orgelbaufirma Rieger. Die Musik füllt den Raum. "1492 - Conquest of Paradise", die monumentale Filmmusik von Vangelis mit ihrem einprägsamen klopfenden Rhythmus, verwandelt das Kirchenschiff in ein Kolossalkino der Phantasie. Patrick Gläser, Spezialist für die Interpretation von Klassikern der Rock-, Pop-, und Filmmusik auf der Pfeifenorgel, zaubert auf dem Instrument. Er ist ein Souverän auf den 29 Registern, die sich auf zwei Manuale und Pedal verteilen. Orgel im Reich der Popkultur: Beatles statt Bach, Moody Blues statt Messiaen.

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"Orgel Vision", das erste "alternative Orgelfestival Dortmund", steht an seinen fünf Konzertabenden für Innovation pur. Ob in Verbindung mit Irish Folk, einer Jazzcombo oder im Dialog mit einem Computer oder einem Live-DJ – die "Königin unter den Instrumenten", wie schon Mozart schwärmte, präsentiert sich als Allrounder in Arrangements und Musikstilen. Umso schöner ist es für die Besucher, die Kunst des Organisten unmittelbar erleben zu können. Das 1995 erbaute Instrument ist, anders als üblich, zentral im Altarraum aufgestellt. Das diffizile Handwerk des Organisten wird so für das Publikum aus dem Dunkel der Empore geholt.

Dietmar Korthals, Organist der Pauluskirche und Inspirator des Festivalkonzepts, hat das Projekt unter den Anspruch einer "Zeit für Visionen" gestellt. "Das Festival", erläutert der 42-jährige, "verfolgt das Ziel, das Instrument Orgel in seiner Vielfalt darzustellen." Ein Crashtest für das überkommene Image des Instruments? Ja, sagt Korthals, es gehe in der Tat um das spielerische Ansinnen, die Orgel aus ihrem Quasi-Ghetto in Liturgie und Konzertsaal herauszuholen, sie mit Musikstilen von Alternativ- und Alltagskultur zu konfrontieren. "Orgelmusik ist ernst", erklärt er, "Orgelmusik ist düster, hat etwas mit Choral und Kirche zu tun." "Orgel Vision" sei daher auch der Versuch, das traditionelle Image aufzubrechen. Das Publikum - inzwischen ist Gläser bei Musik von Alan Parsons Project gelandet - zieht erkennbar mit. Der Pegel des Applauses ebenfalls.

Eine Antwort auf die Krise der klassischen Kirchenarbeit

Das experimentelle Projekt wird von allen Beteiligten auf breiter Basis getragen, auch von den besonders aktiven Kreisen in der Gemeinde und dem Presbyterium. Das Experimentelle, erläutert Pfarrer Friedrich Laker, gehöre zum Konzept, das Ungewöhnliche zum Alltag der Lydia-Gemeinde. 2002, nach der Fusion von drei eigenständigen Gemeinden in der Nordstadt, hätten sich die Verantwortlichen bewusst entschieden, die Gemeindearbeit weiterzuentwickeln und die Pauluskirche in einer Umgebung funktionierender Diakonie zu einem Ort von Kulturkirche zu machen.

In sozialen Brennpunkten wie der Nordstadt, berichtet der 53-jährige Pfarrer, befinde sich klassische Kirchenarbeit in einer Krise. "Die sozialen Bindungen werden schwächer", sagt Laker, "die Mobilität wächst, der demographische Wandel verschiebt die sozialen Koordinaten. Auf diese Veränderung der Gesellschaft müssen wir als Kirche Antworten finden."

Seine Antworten sind offene Kirchennächte, Jazz- und andere Konzerte, regelmäßige Weltmusik-Abende, neue Gottesdienstformen sowie eine "Nacht der Weltreligionen", die der Pauluskirche in der Stadt und weit darüber hinaus bekannt gemacht hat. Das Programm zieht Besucher aus der ganzen Region an, wie auch bei "Orgel rockt". Die Vernetzung der Kirche mit der alternativen Künstlerszene im Stadtteil ist Teil des Plans, mit dem Schwerpunkt auf interkulturelle Aktivitäten. Auch die alternativen Orgelkonzerte wurden durch lokale Sponsoren ermöglicht.

Das Experimentelle braucht Zeit, um bekannt zu werden

Für Pfarrer Laker ist eine Fortsetzung des Festivals im nächsten Jahr bereits ausgemachte Sache: "Was wir wollen, sind nachhaltige Effekte. Gerade am Anfang ist es wichtig, dass man einen jährlichen Rhythmus findet, weil das Experimentelle eine Zeit braucht, um bekannt zu werden." Laker räumt unverhohlen ein, selbst nicht gerade ein Fan der Orgel zu sein. Umso mehr lasse er sich auch von spontanen Reaktionen aus dem Publikum beeindrucken. Eine Besucherin, die normalerweise nur Rockmusik höre, habe sich von seinem Werben für "Orgel Vision" anstecken lassen. Nach dem Spektakel habe sie sich gefreut, dabei gewesen zu sein: "Kaum glaublich, was ich hier sonst verpasst hätte."

Der Himmel über der Pauluskirche ist längst dunkel. Drinnen improvisiert Gläser mit Filmmusik von Hans Zimmer Hollywood-Mythen herbei. Der besondere "Kulturweg" (Laker) der Pauluskirche ist um eine experimentelle Station reicher. Einige werden wiederkommen. Vielleicht schon vor der "Orgel Vision" 2014.