Foto: Martin Rothe
Pfarrer Paul-Hermann Zellfelder aus Schwabach bei Nürnberg ist ein Befürworter der diakonischen Arbeit vor Ort in der Gemeinde.
Pfarrer Zellfelder: "Kirche von unten entwickeln"
Diakonisches Engagement gehört unaufgebbar zur Gemeinde Jesu Christi, sagt Paul-Hermann Zellfelder. Der lutherische Pfarrer hat in einem sozialen Brennpunkt Nürnbergs innovative Projekte angestoßen und ein wegweisendes Buch zum Thema Gemeindediakonie geschrieben. In unserer Serie "Wie wollen wir glauben?" spricht er über verschämte Armut, Sozialaktien, Kindergärten als Nachbarschaftszentren und die Wiedergeburt der "Gemeindeschwester" in moderner Gestalt.

Herr Dr. Zellfelder, Sie sind stark engagiert in der "Basis-Diakonie", aber Sie beobachten auch, wie sich die evangelische Diakonie in Deutschland generell entwickelt. Welche Trends nehmen Sie wahr?

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Paul-Hermann Zellfelder: Ich sehe, dass der diakonische Bereich geprägt ist durch große Werke, die sich als "Sozialkonzerne" verstehen und zum Teil auch wie Konzerne gebärden. Ich finde es problematisch, wenn sie kleinere Gesellschaften "outsourcen", um unter Tarif bezahlen zu können. Natürlich sehe ich auch, dass die staatliche Refinanzierung immer schwieriger wird. Das bringt auch mittelgroße Wohlfahrtsverbände in Schieflage.

Wie sieht es auf der lokalen Ebene aus?

Zellfelder: Bis in die 1980er Jahre hinein war die häusliche Krankenpflege der Diakonie noch näher dran an der Gemeinde – durch die damaligen Diakonissen oder Diakonievereine. Das hat sich mit der Einführung der Pflegeversicherung 1995 gravierend verändert. Seither werden Sozialstationen betrieben, die unter dem Zwang stehen, wirtschaftlich über die Runden zu kommen.

Die Kirchengemeinden und die diakonischen Sozialstationen scheinen sich aus dem Blick verloren zu haben.

Zellfelder: Ja, das ging sehr schnell. Obwohl die Gemeinden häufig formal Mitträger der Sozialstationen sind, ist es ihnen kaum noch bewusst, dass die Stationen etwas mit ihnen zu tun haben. Und umgekehrt genauso. Die Zeiten sind vorbei, wo die Gemeinde-Krankenschwester nach der Pflege eines Gemeindemitglieds dort noch gemütlich einen Kaffeeplausch halten konnte.

"Eine Pflegerin soll mit einem Drittel ihrer Arbeitszeit nicht abrechenbare Leistungen erbringen"

Bis März 2006 waren Sie Pfarrer in einem sozialen Brennpunkt von Nürnberg. Dort haben Sie versucht, diesem Prozess etwas entgegenzusetzen.

Zellfelder: Unsere Kirchengemeinde hat dort zusammen mit der Johanniter-Unfallhilfe das Projekt "Sister nova" ins Leben gerufen, die Wiedergeburt der "Gemeindeschwester" in neuer Gestalt. Es ging darum, der Pflege wieder ein Gesicht zu geben, kontinuierliche Beziehungen aufzubauen.

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Wie sieht dieses Modell konkret aus?

Zellfelder: Eine Pflegerin soll mit einem Drittel ihrer Arbeitszeit nicht abrechenbare Leistungen erbringen: Zeit für Gespräche haben, Kontakt zu Ärzten pflegen, einen ehrenamtlichen Helferkreis in der Gemeinde aufbauen. Sie soll schwerpunktmäßig im Sprengel der Kirchengemeinde tätig sein. Zugleich ist sie in der Gemeinde präsent, wird gottesdienstlich eingeführt und ist mit der Gemeindeleitung eng vernetzt.

Welches Umfeld hatten Sie dort in Ihrem Nürnberger Gemeindebezirk?

Zellfelder: Im Stadtteil am Nordostbahnhof gab es viel Arbeitslosigkeit, Armut und Sanierungsbedarf. Unsere Kirchengemeinde ist dort gut verwurzelt gewesen. Da haben wir versucht, "Kirche von unten"  zu entwickeln, auch zusammen mit kirchenfernen Milieus. Wir haben die Außenanlagen des Kindergartens erneuert, eine Tafel eingerichtet und gemeinsam mit anderen einen offenen Kinder- und Jugendtreff aufgebaut. Und dann hatten wir die Idee mit der Sozialaktie.

Was hat es damit auf sich?

Zellfelder: Unsere Gemeinde hatte einen Hilfsfonds für akute Notlagen gegründet. Auch in meiner neuen Gemeinde hier in Schwabach haben wir jetzt so einen Gemeindehilfsfonds und arbeiten eng mit der Kirchlichen Allgemeinen Sozialarbeit zuammenn. Den finanzieren wir durch die Ausgabe von "Sozialaktien". Einmal im Jahr machen wir eine "Aktionärsversammlung" und informieren über die Verwendung des Geldes. Letztendlich ist das eine Fundraising-Aktion. Die ließe sich gut auf andere Kirchengemeinden übertragen.

"Die Gemeinde würde sich amputieren, wenn sie sich nur noch als soziales Aktionszentrum verstünde"

Was ist Armut aus Ihrer Sicht?

Zellfelder: Armut wird oft fälschlicherweise nur mit "asozial" in Verbindung gebracht. Es gibt aber auch die "verschämte Armut". Oft sind das ganz gestandene Leute, die aber kein Geld haben, am Gemeindefest teilzunehmen oder ihre Kinder mit auf die Konfirmanden-Freizeit zu schicken. Das betrifft oft Alleinerziehende: Von einem Krankenschwesterngehalt kann man keine Familie ernähren. Und auf dem Land hat Armut ein anderes Gesicht als in der Stadt. Dort gibt es zum Beispiel Landwirte, die immer hart gearbeitet haben, aber nur eine Mini-Rente bekommen.

Bei dem finanziellen Druck, unter dem die Landeskirchen und Gemeinden heute stehen, wird gelegentlich hinterfragt, ob Diakonie überhaupt zum Kernbereich von Gemeindearbeit gehört – ob sie nicht besser abgegeben werden sollte.

Zellfelder: Das halte ich für falsch. Natürlich können sich einzelne Handlungsfelder ändern. Und man muss schauen, was jeweils vor Ort notwendig ist. Aber Diakonie gehört unaufgebbar zur Gemeinde Jesu Christi! Lokal und in weltweiter Perspektive.

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Warum?

Zellfelder: Zu Kirche vor Ort gehören seit dem Urchristentum vier Dimensionen: "koinoia" (Gemeinschaft), "martyria" (Zeugnis), "leiturgia" (Gottesdienst) und "diakonia" (Hilfe). Diese Dimensionen sind aufeinander bezogen und ineinander enthalten. Man darf weder die Diakonie isoliert sehen noch eine der anderen Dimensionen absolut setzen. Wir sollten immer alle vier im Blick haben. Und ihr Schnittpunkt sind meiner Auffassung nach Taufe und Abendmahl.

Die Diakonie ist ja im Urchristentum aus dem Abendmahl heraus entstanden.

Zellfelder: Wenn wir sie vom Abendmahl her denken, heißt das: Gott schenkt sich uns ganz handfest in Brot und Wein und wir geben dieses Geschenk weiter. Was in der Mahlfeier symbolisch verdichtet ist, zieht Kreise in die anderen Lebensbezüge hinein. Unsere Schwabacher Kirchengemeinde hat sich entschieden, beides zu machen: diakonische und geistliche Gemeindeentwicklung. Denn je mehr diakonisches Engagement, desto mehr braucht es auch Gebet und spirituelles Leben.

Weshalb?

Zellfelder: Wegen der Balance! Die Gemeinde würde sich amputieren, wenn sie sich nur noch als soziales Aktionszentrum verstünde und das Geistliche verlöre. Und umgekehrt wäre es auch eine Amputation.

"Kindergärten sollte man auf keinen Fall vorschnell an andere Träger abgeben"

Angenommen, eine Kirchengemeinde hat noch keine gemeindediakonischen Angebote entwickelt: Wie ließe sich soetwas angehen?

Zellfelder: Eigentlich gibt es solche Angebote überall schon, wenn man genau hinschaut. Aber wenn ich die Gemeindediakonie stärken will, ist es wichtig, hinzuhören, was vor Ort gebraucht wird, und Verbündete zu suchen. Dann braucht es den richtigen Zeitpunkt und den rechten Ort. Es muss ja nicht gleich ein Riesenprojekt sein. Man kann klein anfangen. Es ist nicht schlimm, wenn es schiefgeht. Schlimm ist, wenn man es nicht ausprobiert.

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In Nürnberg haben Sie auch mit nichtkirchlichen Institutionen kooperiert.

Zellfelder: Ja, wir haben zum Beispiel mit den Leuten vom Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt" gut zusammengearbeitet. Es ist wichtig, dass man Gemeindediakonie nicht nur binnenkirchlich denkt, sondern gemeinwesenorientiert! Dass man als Gemeinde nicht isoliert vorgeht, sondern mit anderen kooperiert.

Ein besonders lohnender Bereich könnten da die kirchlichen Kindergärten sein...

Zellfelder: Die sollte man auf keinen Fall vorschnell an andere Träger abgeben. Denn sie sind ein idealer Ort, um Kontakte zu knüpfen mit neu Zugezogenen oder Migranten. Und zwar generationsübergreifend.

In Ihrem "Praxisbuch für diakonischen Gemeindeentwicklung" schreiben Sie, man solle die Kindergärten als Nachbarschaftszentren begreifen.

Zellfelder: Hier in Schwabach versuchen wir das mit unserem neuem Familienzentrum "Matze". Dort veranstalten wir zum Beispiel internationales Kochen für die Eltern. Und es wurde eigens ein Beratungszimmer integriert, dorthin kommen regelmäßig diakonische Berater und halten Sprechstunden ab. Das ist niederschwelliger.

Was wünschen Sie der evangelischen Kirche für die kommenden 30 Jahre?

Zellfelder: Dass sie die enormen Chancen der stinknormalen Ortsgemeinden wieder entdeckt! Auf manche verkrampfte Aktion übergeordneter Kirchenstellen könnten wir verzichten, wenn die Gemeinden mehr Möglichkeiten hätten, sich zu entfalten. Es geschieht ja in Deutschland nichts an Glück und Leid außerhalb der Rufweite einer Gemeinde! Keine andere soziale Größe ist so flächendeckend vorhanden. Dort gibt es potentiell Menschen aller Altersgruppen, Schichten und sozialen Lebenslagen. Das ist die kostbarste kirchliche Struktur, die wir haben!