"Mich regt das Schweigen Europas auf, das gerade den Friedensnobelpreis erhalten hat und trotzdem nichts zu dem kriegsähnlichen Massaker vor Lampedusa zu sagen hat." Es sind eindringliche Worte der Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini. Das Erschütterndste an ihnen: Sie sind fast ein Jahr alt. Im November 2012 wandte sich die Politikerin in einem leidenschaftlichen Schreiben an die europäische Bevölkerung. Es geht um die vielen Flüchtlinge, die vor der italienischen Insel stranden, die die Hoffnung auf ein besseres Leben mit dem Tod bezahlen.
Wenn Hilfe zum Verbrechen wird
Elf Monate später ist nichts besser geworden. Im Gegenteil – über 300 Tote könnte der Untergang des libyschen Flüchtlingsboots gekostet haben. Das Ausmaß hätte gemindert werden können – doch die italienischen Gesetze sind strikt. Hilft ein Fischerboot den Flüchtlingen, werden die Fischer zu Verbrechern. Sie könnten wegen Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt werden. Wie ernst es dem Land damit ist, erlebte der Journalist Elias Bierdel. Als er Flüchtlinge in Seenot auf ein Boot holte, wurde er wenig später in einer italienischen Hafenstadt verhaftet. Auf ein dreijähriges Verfahren folgte zwar ein Freispruch – doch die Gesetzeslage hat sich seitdem nicht verändert.
###mehr-artikel###Dass die alles andere als zahnlos ist, erzählt Bierdel bei "hart aber fair". Wenige Tage nach der Katastrophe diskutiert Frank Plasberg hier mit seinen Gästen die Frage: "Tragödie am Strand – etwas Besseres als den Tod bieten wir nicht?" Bierdel sagt hier, dass schon die Anklage wegen Beihilfe zur illegalen Einreise alles andere als harmlos ist: "Das hat Konsequenzen. Von Fischern wird das Boot beschlagnahmt." Die gefürchteten Ausfälle könnten sie daran hindern, Menschenleben zu retten. Allerdings, so Bierdel, sei dies kein italienisches, sondern ein europäisches Problem: "Wäre das nicht erwünscht, würde das nicht existieren."
Auch Roger Köppel, Chefredakteur der Schweizer "Weltwoche" sieht Fehler in der europäischen Politik – aber ganz anderer Natur. So erkennt er in der Katastrophe von Lampedusa das Sinnbild für das Scheitern von 50 Jahren Entwicklungshilfe. Bei all dem geflossenen Geld dürfe es solche Flüchtlingsströme eigentlich nicht mehr geben, sagt er. Außerdem schaffe Europas Asylpolitik Anreize, herzukommen. "Wir müssen Grenzen absichern, damit Schleppern das Handwerk gelegt wird." Dabei investiert Europa schon jetzt 85 Millionen Euro in die Überwachung der Grenzen, wie ein Einspielfilm zeigte. Mit dem neusten Stand der Technik werden illegale Einwanderer aufgespürt.
Köppel: Bilder zur Abschreckung zeigen
Außerdem empfiehlt Köppel, die Bilder aus Lampeduse auch in den afrikanischen Ländern zu verbreiten. Dann wagten vielleicht weniger die Flucht, so seine Theorie. "Sie würden es trotzdem tun", fällt ihm jedoch Khadra Sufi ins Wort. Sie selbst ist als Kind mit ihrer Familie aus Somalia geflohen. Überhaupt ist Köppel in dieser Sendung sehr einsam mit seinen Positionen. Am meisten stemmt sich sich Bierdel gegen die Äußerungen seines Journalistenkollegen. Sätze wie "Ganz Afrika kommt zu uns" sind für ihn Propagandaäußerungen. Er erinnert daran, dass die wenigsten Flüchtlinge nach Europa kommen und meistens von armen Nachbarländern aufgenommen werden. Außerdem sei Europa nicht unschuldig an der prekären Lage einiger afrikanischer Länder, sagt Bierdel. Mit Agrarsubventionen zerstörte die EU beispielsweise die Märkte auf dem Kontinent.
Der Zuschauer hört also nicht nur die Argumente für eine strengere Flüchtlingspolitik, sondern bekommt gleich die Gegenargumente dazu gleich mitgeliefert. Insofern war es gut, dass die Redaktion auch einen Antagonisten gefunden hat, was in diesen Tagen nicht so einfach gewesen sein dürfte. Und noch etwas gelingt der Redaktion: Mit einem Einspieler der Proteste aus Berlin-Hellersdorf wird ein Bogen geschaffen von den dramatischen Bildern aus Lampedusa zu den Demonstrationen in der deutschen Hauptstadt. Es geht um Menschen, die ihr Land unter vermutlich schwersten Bedingungen verlassen, um woanders ein besseres Leben zu finden.