Kommentar
Illustration: evangelisch.de/Simone Sass
"Kirche muss ihre Stimme für Flüchtlinge laut erheben"
Das Flüchtlingsunglück vor Lampedusa sorgt für Wut, Trauer und Verständnislosigkeit gegenüber der Unmenschlichkeit. evangelisch.de-Redakteure kommentieren die Lage der Flüchtlinge aus Afrika, Syrien und anderen Orten der Welt und fragen sich: "Wo ist die Nächstenliebe?"

Warum uns das 2013 wichtig war: Das war für mich ein ganz besonderer Moment 2013. Zunächst einmal ein ganz besonders furchtbarer: Die Nachricht von der Katastrophe vor Lampedusa, bei der so viele Menschen ums Leben kamen. Und damit leider nicht die ersten waren, die auch einer Flüchtlingspolitik zum Opfer fielen, die primär auf Abschottung statt auf Hilfe setzt. In der Redaktionskonferenz dann aber der Moment, an dem ich feststellte, dass ich mit meiner Bestürzung, aber auch meiner Empörung nicht alleine stehe. Und der Entschluss, einen gemeinsamen Kommentar zu veröffentlichen - als ein klares Signal, dass wir nicht hinter dieser Politik stehen. Sicher rettet das keine Leben. Aber es gibt seit den Ereignissen vor drei Monaten trotzdem auch Zeichen der Hoffnung: Zum Beispiel die Menschen in Hamburg und Frankfurt, die "Lampedusa-Flüchtlingen" in ihren Kirchen helfen. Und auch Verantwortungsträger aus Kirche und Gesellschaft, die tatsächlich ihre Stimme erheben und mahnen, dass sich an der europäischen Flüchtlingspolitik etwas ändern muss. Leider sind solche Veränderungen bisher kaum zu erkennen - und das Thema immer noch schmerzlich aktuell. Umso wichtiger fand und finde ich es aber, dass wir weiterhin sagen: Wir sind nicht einverstanden!

- Claudius Grigat, freier Mitarbeiter bei evangelisch.de


 

Pfarrer Frank Muchlinsky, Redakteur bei evangelisch.de:

Die Geschichte des Jesus von Nazareth wäre kurz gewesen, wenn er und seine Familie nicht vor der Verfolgung durch Herodes nach Afrika hätten fliehen können. Man hätte den Säugling kurzerhand umgebracht (Mt 2,13f.). Die Geschichte des Volkes Israel hätte nie stattgefunden, wenn nicht schon die Stammeltern immer wieder vor dem Hunger geflohen wären. (Gen 12,10-20, Gen 26,1-11, Gen 41,57-42,3).

Die christliche Kirche, die in dieser Tradition steht, darf nicht nur ihre Stimme erheben, wenn es um Flüchtlingspolitik geht, sie muss es tun. Drum ist es gut, wenn der Ratsvorsitzende der EKD von einer Schande spricht, die vor den Ufern Europas geschieht. Es ist richtig, wenn es der Bischof der Nordkirche "menschenverachtend" nennt, wenn jemand einem überlebenden Flüchtling sagt, unser Boot sei voll. Es ist angemessen, dass der Papst nach Lampedusa fährt und dort Flüchtlinge trifft, die das europäische Festland erreicht haben. Ich bete, dass die Kirchen nicht so bald wieder leise werden, sondern so lange eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik fordern, bis es sie gibt.

Claudius Grigat, freier Redakteur bei evangelisch.de:

Die Krokodilstränen von Verantwortungsträgern in Deutschland und der EU angesichts der Toten vor Lampedusa sind schwer zu ertragen. Wie kann man so viel (sicher ehrliches) Mitleid bekunden, dabei aber gleichzeitig den eigenen Anteil am Geschehen so komplett ausblenden? So war es das Bundesinnenministerium, das den Weg für die europäische "Grenzschutzagentur" Frontex bereitet hat. "Geschützt" werden soll dabei in erster Linie vor sogenannten "Illegalen": Menschen, die aus Leid und Not fliehen. Einen Aufnahmeantrag in Deutschland können sie aber beispielsweise aufgrund der "Drittstaatenregelung" (auch eine deutsche Erfindung!) nicht stellen.

Der Tod der Menschen wird von dieser europäischen Flüchtlingspolitik prinzipiell in Kauf genommen – schließlich dient er auch der Abschreckung weiterer Flüchtlinge. Das tut übrigens auch die permanente Rede von "Schlepperbanden" – ohne Unterscheidung, ob es sich bei den Fluchthelfern tatsächlich um gewissenlose Kriminelle oder eventuell auch um verzweifelte Unterstützer in der Not handelt. Was wirklich verboten gehört: Abschottung, Kriminalisierung von Flüchtlingen und Helfern – und Krokodilstränen!

Markus Bechtold, Redakteur bei evangelisch.de:

Woher kommt nur diese Angst mancher Menschen bei uns im Land, die verhindert, anderen in Lebensgefahr helfen zu wollen? Wer auf der Flucht aus Syrien ist, bangt um sein Leben. Wer aus Afrika flieht, sehnt sich nach einer besseren Zukunft. Flucht und Vertreibung sind nicht nur ein Phänomen unserer Zeit. Allein die Bibel erzählt viele solcher Erfahrungen. Warum haben Menschen, die sich selbst in Sicherheit und Wohlstand wissen, dennoch Angst, anderen in Not auf Zeit zu helfen? Warum bleibt das christliche Verständnis der Nächstenliebe dann kurzatmig auf der Strecke?

Da die Angst existiert, muss man sie ernst nehmen. Aber man darf sich ihr nicht beugen. Unsicherheit, Vorurteile und Unbekanntes können Angst erzeugen. Dagegen kommt, kurzfristig betrachtet, die Politik nicht an. Auch die auf Sensation setzende Fernsehserie "Auf der Flucht – Das Experiment" nimmt Menschen nicht ihre Befürchtungen. In solchen Situationen von Unsicherheit und Verständnislosigkeit schlägt nun die Stunde der christlichen Kirche. Sie kann und muss Menschen stärken, die ängstlich sind. Und sie ist in der Lage, den Weg für ein gelebtes Miteinander zu bereiten, das Menschen in Not Halt gibt, die längst keinen festen Boden mehr unter ihren Füßen spüren.

Juliane Ziegler, Redakteurin bei evangelisch.de:

August 2008: 70 Flüchtlinge sterben vor der Küste Maltas. April 2011: 250 Menschen ertrinken auf der Fahrt nach Lampedusa. Juli 2012: 54 Flüchtlinge verdursten auf dem Weg nach Europa. Oktober 2013: Bislang über 200 Todesopfer, vermutlich wird die Zahl noch steigen. Die erschreckenden Nachrichten sind nicht neu, die Flüchtlingstragödien im Mittelmeer wiederholen sich seit Jahren und Europa scheint zu ignorieren, was vor den eigenen Grenzen geschieht.

Ideen und Ansatzpunkte gibt es en masse: Eine bessere gemeinsame Flüchtlingspolitik. Die Lebensverhältnisse in den Heimatländern verbessern. Gegen kriminelle Schlepper vorgehen. Mit den Herkunftsländern besser kooperieren.

Doch eine konkrete Idee fehlt, direktes Handeln und klare Entscheidungen lassen auf sich warten. Stattdessen übertrumpfen sich die Politiker gegenseitig mit vagen Vorschlägen, demonstrieren Betroffenheit und setzen eher auf scharfe Abgrenzungspolitik – die offensichtlich nicht dazu führt, dass weniger Menschen nach Europa wollen. Sie zeigt vielmehr: Abgeriegelte Grenzen retten kein Leben.

Hanno Terbuyken, Portalleiter von evangelisch.de:

Immer, wenn Flüchtlinge nach in Deutschland kommen, sind die ängstlichen Kommentierer schon da. Die "Süddeutsche Zeitung" erlebte neulich einen besonders krassen Fall von Kommentar-Rassismus, als ein Syrer damit drohte, von einem Kran zu springen. Er wollte nur seine Familie nach Deutschland holen. Das war Grund genug für die Leser, rund um ein herzliches "Spring doch!" einen fiesen Strom an Rassismus abzulassen.

Das kennen wir auch auf evangelisch.de, und es ist zum Kotzen. Menschen, die sich Christen nennen, offenbaren eine tiefliegende Abneigung gegen alle Fremden, die hier nach Sicherheit und einem besseren Lebensstandard suchen. Asylbewerber werden pauschal als Sozialschmarotzer abgewertet, Bischöfe, die mehr Menschlichkeit einfordern, werden aufgefordert, erstmal selbst einen "Asylanten" in ihrem Wohnzimmer aufzunehmen.

Wo bleibt das Mitgefühl? Wo ist die Nächstenliebe? Niemand in Deutschland muss Asylbewerber in seinem Wohnzimmer aufnehmen, weil wir den Luxus haben, ein solidarisches Steuersystem finanzieren zu können. Darauf, dass der Staat ja schon genug tue, kann man sich sogar berufen. Das ist aber das Mindeste, das wir tun können! Nicht nur die Menschlichkeit, auch Jesu Vorbild gebietet, allen anderen Menschen erstmal positiv gegenüber zu treten. Flüchtlinge und Asylbewerber als Problem für das Gemeinwesen zu betrachten, weil sie Ausländer sind, ist purer Rassismus. Man muss ihnen zumindest eine Chance geben, zu zeigen, was sie können und wer sie sind. Eine generelle Arbeitserlaubnis für Asylbewerber wäre ein Anfang - und ein freundliches Lächeln im Alltag oder im Internet auch.

 

"Briefe an die EU - Asylbewerber erheben ihre Stimme": In eindrücklichen Briefen an die EU berichten Asylsuchende von ihren Wegen durch Europa und von ihrem Leben in jahrelanger Ungewissheit, wo sie ein Zuhause finden.