Frau Dr. Vogt, als Pfarrerin des geistlichen Zentrums Schwanberg begleiten Sie viele Menschen in existenziellen und spirituellen Fragen. Was ist für Sie gelungene Seelsorge?
Dr. Thea Vogt: Wenn der Mensch, den ich begleite, entdeckt, dass sein eigenes Leben eingebettet ist in eine große Heilsgeschichte. Wenn er oder sie sich zum Beispiel mit einer Person aus der Bibel identifizieren und an deren Geschichte wachsen kann. Das wirkt oft heilend, befreiend und sinnstiftend. Denn - so hat das der jüdische Denker Abraham Heschel mal gesagt - die Bibel ist die Story von jedermann und jederfrau, immer und überall. Die Gefahr ist doch heute, dass das Leid privatisiert wird!
Was meinen Sie damit?
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Vogt: Ich sehe einen unheimlich großen Bedarf in unserer Gesellschaft, das eigene Leiden in einem größeren Kontext zu sehen. In der Seelsorge geht es oft geht um Geschehnisse, die nicht nur ein privates Problem sind, sondern die durch bestimmte gesellschaftliche Strukturen von außen gesetzt sind. Zu erkennen, dass dasselbe sehr viele Menschen betrifft, kann tröstend sein. Das befreit aus der Isolation.
Was ist das Besondere an christlicher Seelsorge, verglichen etwa mit Psychotherapie?
Vogt: Dass sie - über alle Selbstbegegnung hinaus - eine Begegnung mit dem lebendigen Gott ermöglichen kann. Wir haben die biblischen Geschichten und Bilder - zum Beispiel dass wir uns öffnen können in Gottes Arme hinein. Außerdem habe ich als Seelsorgerin bestimmte Rituale zur Verfügung: Ein gemeinsames Gebet oder eine Beichte kann befreiend wirken. Auch Berührungen haben etwas Heilendes: eine Handauflegung mit Segenszuspruch, eine Salbung.
"Gefahr ist dort im Verzug, wo ich den anderen nicht mehr als mündiges Gegenüber wahrnehme"
Seelsorger und geistliche Begleiter haben oft viel Einfluss. Wie können sie verhindern, dass das Verhältnis kippt, dass sie ihre "Macht" missbrauchen?
Vogt: Indem sie zur Supervision gehen und sich immer wieder kritisch reflektieren: Was maße ich mir an? Wo manipuliere ich vielleicht? Schmeichelt es mir, wenn der andere mich toll findet? Gefahr ist dort im Verzug, wo ich den anderen nicht mehr als mündiges Gegenüber wahrnehme - als hinge dessen Rettung von mir ab. Mir ist wichtig, dass wir als Seelsorger und geistliche Begleiter andere Menschen ermächtigen. Dass wir durch unsere Vollmacht - im Vertrauen auf das Wirken des heiligen Geistes in uns - andere zum Leben ermächtigen, so dass sie wieder an sich glauben und auf eigenen Füßen zum Stehen kommen. Denn das ist doch Gotteserfahrung: "Du machst meine Knöchel fest" und "stellst meine Füße auf weiten Raum", wie es in den Psalmen heißt.
Was sollten christliche Seelsorger mitbringen?
Vogt: Leidenschaft zum Menschen und Liebe zum biblischen Wort! Das Hören ist die Grundlage für Begegnung. Nur als Hörende kann ich da sein für die Müden und Beladenen. Als geistliche Begleiterin soll ich selbst immer im Gespräch mit Gott bleiben, um dann auch andere mit hineinnehmen zu können. Und ich sollte einige psychologische Grundkenntnisse haben.
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Was ist Ihre tägliche Kraftquelle?
Vogt: Ich beginne jeden Tag damit, mich bewusst in Gottes Licht zu stellen. Für eine Stunde gehe ich in die Stille, ich beginne mit einem Leibgebet und meditiere dann vor einer Ikone, wechselnd mit einem Wort aus der Bibel oder einfachem Schauen auf Gott.
Mit Ihrem Mann, der zugleich Ihr Kollege ist, bilden Sie hier oben auf dem Schwanberg andere Leute in christlicher Meditation aus.
Vogt: Uns ist es ein großes Anliegen, dass christliche Meditation demokratisiert, dass sie allen Menschen zugänglich wird. Der lateinamerikanische Dichter und Seelsorger Ernesto Cardenal sagt: "Wie der Eisvogel geschaffen wurde zum Fischefangen und der Schmetterling zum Nektarsaugen, so ist der Mensch geschaffen zur Liebe und Kontemplation Gottes!" Es ist wichtig, dass die Menschen nicht nur auf einem "heiligen Berg" wie hier, sondern an allen Orten Räume der Stille finden. Deshalb bilden wir seit 2008 interessierte Leute in christlicher Meditation aus, die das Gelernte dann an ihren Orten weitergeben können.
"Es geht um Konzentration, um bewusste Ausrichtung auf Gott und Christus"
Was ist das überhaupt - christliche Meditation?
Vogt: Es geht nicht um eine Entspannungstechnik, um dann wieder besser zu funktionieren. Sondern es geht um Konzentration, um bewusste Ausrichtung auf Gott und Christus: Ich lasse mich von Gott lieben, richte mich in der Stille mit Leib und Geist auf ihn aus. Die Wurzeln der christlichen Meditation liegen ja im Judentum: Für die Juden ist das Gebet ihre heilige Pflicht und Würde. "Wisse, vor wem du stehst! Sei stille zu Gott hin. Du kannst dich mit deinem ganzen Leben hineinsprechen in Gott." Das ist der Weg Jesu. Es geht darum, im Schweigen und Hören in eine Zwiesprache mit Gott hineinzukommen.
Sie beginnen die Meditation mit einem Leibgebet.
Vogt: Ja, denn meine Gedanken wollen mich immer wieder in die Vergangenheit oder Zukunft ziehen. Da hilft mir mein Leib mit seiner Schwerkraft, im Hier und Jetzt anzukommen. Wenn ich dann "da" bin, wenn ich Leib und Atem wahrgenommen habe, kann ich meine Herzensaufmerksamkeit auf einen Bibelvers richten oder auf eine Geschichte aus den Evangelien.
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Dann hat diese Art der Meditation mit der verbreiteten esoterischen Nabelschau nicht viel gemein.
Vogt: Nein, denn es geht um liebende Begegnung. Für mich bedeutet Meditation: wach und aufmerksam in der Gegenwart Gottes da zu sein und zuzulassen, dass er mich hier und jetzt liebt! Wahrnehmen lernen, aufmerksam sein für mich und die Welt um mich herum. Das ist das Gegenteil von Nabelschau. Einer meiner geistlichen Lehrer hat einmal gesagt: "Wenn du in Gott hineinfällst und nicht neben deinem Bruder und deiner Schwester wieder auftauchst, dann bist du ins Plumpsklo gefallen!"
So ein tägliches Gebetsleben lässt sich in einer klösterlichen Atmosphäre wie hier auf dem Schwanberg sicher gut durchhalten. Aber unten im Alltag?
Vogt: Da kann Gemeinschaft helfen. Man kann ein- oder mehrmals in der Woche eine gemeinsame Morgenandacht veranstalten, eine Meditationsgruppe suchen oder ein regelmäßiges Taizégebet.
"Das tägliche Gebet sollte zu meiner Würde gehören, unabhängig von Stimmung und Gefühl"
Aber wenn man in seiner Umgebung keine gleichgesinnten Mitstreiter hat? Wie kann man da durchhalten?
Vogt: Ich sollte für mich eine Entscheidung treffen, dass das tägliche Gebet zu meiner Würde gehört, unabhängig von Stimmung und Gefühl. Man sollte es nicht als starre Regel auffassen, eher als ein Liebesverhältnis mit Gott. Wenn ich mal einige Zeit den Faden verloren habe, kann ich jederzeit wieder neu beginnen. Es geht weniger um Durchhalten, eher darum, sich durchtragen zu lassen.
Sie sagen: Wer in eine tagtägliche Gottesbeziehung "hineinfällt", taucht bei den Mitmenschen wieder auf. Was würden Sie Ihrer Kirche für die zwischenmenschliche Ebene wünschen?
Vogt: Ich glaube, dass wir alle - auch die Laien, entsprechend dem Priestertum aller Gläubigen - wieder stärker gefordert sind, einander seelsorgerlich zu begleiten. Das sollte nicht nur delegiert werden an Hauptamtliche. Da ist zuviel Entmündigung oder Entfremdung passiert. Über die eigene Gottesbeziehung reden - darüber, was ich da erlebe oder auch vermisse - das ist doch heute ein ziemliches Tabu, oder?
Allerdings.
Vogt: Da wünsche ich mir, dass wir wieder sprachfähiger werden, uns mitteilen. Glaubenserfahrungen sind kein Privatbesitz, sagt Dorothee Sölle. Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass Christen darauf vertrauen: "Der heilige Geist ist da, hier und jetzt in diesem Moment, und ich kann vollmächtig in Christi Namen wirken!"
Wie könnte das konkret aussehen?
Vogt: Ich kann einem, dem es nicht gut geht, anbieten, dass er mir von sich erzählt. Indem ich ihm zuhöre, nehme ich ihn ernst und hole ihn heraus aus seiner Isolation. Ich kann dann auch von eigenen Erfahrungen berichten. Ich kann diesen Menschen erinnern an seine Würde, die er in den Augen Gottes hat. Und vor allem habe ich als Christ die Vollmacht, mit dem anderen ein Gebet zu sprechen und ihn zu segen! Ein Gebet, eine Segensgeste hat immer auch eine kosmische Bedeutung. Alles ist eingebunden in ein größeres Ganzes, eine Versöhnung im Kleinen hat Weltenwirkung. Ich glaube, dass alles Lebendige miteinander verbunden ist.
Welche Vision hätten Sie noch für die Kirche der Zukunft?
Vogt: Eigentlich brauchen wir keine neuen Visionen, denn die stärksten Visionen stehen ja in der Bibel! Nehmen Sie nur das Bild vom wandernden Gottesvolk und vom mitziehenden Gott, der unter uns zeltet. Ich wünsche mir eine stärkere Rückbesinnung auf das reformatorische Urerlebnis mit der Bibel. Da drin liegen Schätze, da liegt unser aller Leben beschrieben. Da stehen Verheißungen, die uns gegen alle Widerstände hoffen lassen. Sie kann tausendmal missbraucht werden - die Bibel wird sich trotzdem durchleben. Sie bleibt unverfügbar und lebendig! Und wir mit ihr. Sie sagt uns, wer wir sind: "Die Gott lieben sind wie die Sonne, die aufgeht in ihrer Pracht."