Nach Ansicht des Berliner Kirchenhistorikers Christoph Markschies hat es die EKD versäumt, die theologische Bedeutung der Ehe zwischen zwei Menschen verschiedenen Geschlechts herauszuarbeiten. Diese Bedeutung werde in der Orientierungshilfe "mehr vorausgesetzt und behauptet, denn wirklich präzise begründet". Der frühere Präsident der Humboldt-Universität monierte, in dem Papier werde zwar Luthers Charakterisierung der Ehe als "äußerlich weltlich Ding" zitiert, nicht aber seine Einschätzung der Verbindung von Mann und Frau als "seliger Stand und gottgefällig".
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"Kirche ist nicht weiser als Politiker"
Der systematische Theologe Klaus Tanner sagte mit Blick auf das unpräzise protestantische Eheverständnis, die Orientierungshilfe blende die darin liegende Sprengkraft "bewusst oder unbewusst" ab. Der Text lasse wenig Bemühen erkennen, "die unterschiedlichen Einschätzungen und Kontroversen darzustellen beziehungsweise andere Positionen ernst zu nehmen". Ironisch fügte der Heidelberger Professor hinzu: "Auch EKD-Kommissionen sind nicht befähigt, weiser zu sein als Politiker, die auf mühevollen Wegen in parlamentarischen Verfahren Sozialpolitik machen."
Das Papier mit dem Titel "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken" war im Juni erschienen. Darin spricht sich die Kirche für eine Anerkennung aller Familienformen aus, auch homosexueller Lebenspartnerschaften und sogenannter Patchworkfamilien. Die Ehe von Mann und Frau sei zwar eine "gute Gabe Gottes", heißt es darin, könne aber nach dem Zeugnis des Neuen Testaments nicht als einzige Lebensform gelten.
Kritiker bemängelten daraufhin, die EKD gebe das Leitbild einer lebenslangen Partnerschaft auf und werte die herkömmliche Verbindung von Mann und Frau ab. Zudem sei die Orientierungshilfe zu wenig theologisch untermauert. Nach Überlieferung des Markusevangeliums (Mk 10,9) widerspricht Jesus von Nazareth der jüdischen Scheidungserlaubnis und stellt eine klare Regel auf: "Was Gott verbunden hat, darf der Mensch nicht trennen." Nach christlichem, auch evangelischem Verständnis ist die Liebe zwischen Mann und Frau ein Abbild der Gottesliebe.
Biblische Bezüge nur am Rande
Der in Mainz lehrende Neutestamentler Friedrich Wilhelm Horn sagte bei der Berliner Tagung vor rund 150 Zuhörern, biblische Bezüge seien in der Orientierungshilfe "eher marginal". Das Papier fordere Kirche auf, "Familie neu zu denken und die Vielfalt von privaten Lebensformen unvoreingenommen anzuerkennen und zu unterstützen". Ein normatives Verständnis der Ehe als göttlicher Stiftung werde hingegen abgelehnt, so der Bibelwissenschaftler. "Dieser Satz steht unglaublich isoliert und unreflektiert im Raum und hat zu Recht nachfragen lassen, ob hier nicht die Ehe sozusagen in einem Handstreich und ohne Not aufgegeben wird."
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Markschies wies auch auf einige begriffliche Unschärfen hin. So bezeichne die Schrift die Ehe als "gute Gabe Gottes" sowie als "Leitbild". Letzterer Begriff erinnere ihn eher an die Deutsche Bahn, die sich zu kundenorientiertem Service und Pünktlichkeit bekenne, "mit welchem Ergebnis auch immer". Der Wissenschaftler ließ zugleich aber durchblicken, dass es kein theologisch begründetes Mandat mehr gebe, Menschen gleichen Geschlechts den Wunsch nach einer Ehe abzuschlagen. Auch Tanner rief die Kirche dazu auf, andere Lebensformen als die Ehe nicht abzuwerten, aber eine "angemessene Differenzierung" vorzunehmen.
Horn bejahte das Recht auf homosexuelle Lebenspartnerschaften "aus theologischen Überlegungen". Mit dieser Entscheidung positioniere er sich aber klar gegen biblische Vorgaben. Der Theologe verwies auf entsprechende Stellen im alttestamentlichen Buch Levitikus. Doch hätten Menschen als Geschöpfe Gottes das Recht, entweder heterosexuell oder homosexuell in der Partnerschaft zu leben. "Für mich ist dieser Schritt theologisch konsequent, auch wenn er für mich nicht die Leitbildfunktion der Ehe in Frage stellt."
Auch die Hamburger Neutestamentlerin Christine Gerber verwies darauf, der biblische Befund zu Ehe und Familie werde in der EKD-Orientierungshilfe eher "narrativ" dargestellt, "mit Unschärfen und Fehlern im Detail". Den sozialethischen Positionen des Papiers könne sie aber gut folgen. Die Wissenschaftlerin betonte, das Neue Testament spreche nicht von Ehe und Familie im heutigen Sinne. In den Texten würden verschiedene Haltungen zur Ehe sichtbar, die selbstverständlich eine Paarbeziehung zwischen Mann und Frau meine.
EKD-Rat soll Missverständnisse ausräumen
Der emeritierte Heidelberger Theologe Wilfried Härle vermied direkte Kritik an der Orientierungshilfe. Er rief den EKD-Rat indes auf, eine Stellungnahme zu veröffentlichen, "die die aufgetretenden Missverständnisse ausräumt". Diese müsse den "Charakter einer möglichst unmissverständlichen, präszisen und theoloigsch begründeten Positionsbestimmung" haben. Damit könne die Kirche einen Beitrag zur Orientierung leisten, "die dringend benötigt wird".
Zu Beginn der Diskussion hatte sich der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider zufrieden mit der bisherigen Kontroverse über das Papier gezeigt. "Ein kritischer, auch selbstkritischer Diskurs über ethische Orientierungshilfen in existenziellen Fragen steht dem Protestantismus gut an", so der frühere rheinische Präses. Viele Menschen hätten mit großer Verunsicherung auf die Veränderungen reagiert, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mit Blick auf das familiäre Zusammenleben ergeben hätten. Deshalb habe auch die EKD-Orientierungshilfe "Verunsicherung und starke emotionale Betroffenheit" ausgelöst, so Schneider.
Der Rat der EKD habe die vielfältige und vielstimmige Kritik sorgfältig wahrgenommen, sagte der Ratschef weiter. Er habe sich nicht über jede Reaktion gefreut; manches sei auch "unterirdisch" gewesen. Schneider verwies erneut darauf, dass das Papier möglicherweise überarbeitet werde. "Neben dem kommunikativen Vorgehen, das zweifellos verbesserungswürdig war, sehen wir auch einige inhaltliche Punkte, die wir deutlicher ausformulieren und theologisch begründen wollen." Die familienpolitische Diskussion soll auch Thema auf der EKD-Synode im November in Düsseldorf sein.