Wer die Woche am Sonntagabend mit einem leicht bekömmlichen Krimi von der Stange ausklingen lassen will, wird vom "Polizeiruf" aus München regelmäßig enttäuscht: Mal sieht man nichts, mal versteht man nur die Hälfte, und die Geschichten fallen auch regelmäßig aus dem Rahmen. Kein Wunder, dass die Filme mit Matthias Brand polarisieren; aber etwas besonderes sind sie immer.
Mit jeder Rückblende erfährt man ein wenig mehr
Für "Kinderparadies" gilt das nicht minder, im Gegenteil. Schon allein die Musik, eine mutwillige Mixtur aus Kinderliedern, Spieluhrklängen und Windspielgeräuschen, wird mancher Zuschauer womöglich als Zumutung empfinden; dabei stammt sie von Klaus Doldinger, nicht nur einer der größten deutschen Jazzmusiker, sondern auch Schöpfer der "Tatort"-Titelmelodie. Ähnlich anspruchsvoll ist die verschachtelte Erzähltechnik: Der Film ist eine furiose Montage aus Rückblenden, die zudem zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her springen.
Das Drehbuch von Grimme-Preisträger Daniel Nocke, dem Stammautor von Stephan Krohmer ("Ende der Saison", "Familienkreise") ist ohnehin ein kunstvolles Konstrukt. Für zusätzlichen Reiz sorgt die Verknüpfung mit der Gegenwart, denn während Hanns von Meuffels versucht, die Ereignisse rund um die grausame Ermordung einer jungen Frau nachzuvollziehen, sieht man ihn nachdenklich durch die Rückblenden wandern.
Leander Haussmann führt Regie
Regisseur des Films ist Leander Haussmann, und auch das ist beachtlich; der renommierte Theaterregisseur hat zwar schon diverse herausragende Kinofilme gedreht ("Sonnenallee", "Herr Lehmann"), arbeitet aber nur selten fürs Fernsehen. Seine Inszenierung ist eine faszinierende, mitunter aber auch verstörende Mischung unterschiedlichster Genre- und Stilelemente. Einige Szenen wirken ausgesprochen theatralisch, andere sind großes Fernsehen.
Herzstück der Krimiebene ist naturgemäß der Mord, über den man mit jeder Rückblende ein bisschen mehr erfährt, der aber erst am Ende in seiner ganzen brutalen Ausführlichkeit gezeigt wird: Ella Werken (Lisa Wagner) wird im strömenden Regen überfahren. Zuvor hatte sie einen heftigen Streit mit ihrem Geliebten, Tobias (Markus Brandl). Meuffels konzentriert seine Ermittlungen zunächst allerdings auf ihren Lebensgefährten Joachim Grand (Johannes Zeiler): Der Mann neigt zu Gewalttätigkeiten. Außerdem wusste er, dass die gemeinsame kleine Tochter Lara keineswegs von ihm, sondern von Tobias gezeugt worden ist.
Bei allem Respekt vor Matthias Brandt, dessen Darbietungen praktisch immer preiswürdig sind: Das kleine Mädchen ist ein echter Wonneproppen und der absolute Star dieses Films. Weil sich Meuffels um das Kind kümmern muss, gibt es Vielzahl ebenso berührender wie heiterer Szenen. Ein komödiantisches Kleinod ist der gemeinsame Einkauf im Supermarkt, auch wenn die Stimmung schlagartig umschlägt, als das Mädchen plötzlich verschwindet. Zentraler Handlungsort des Films ist jedoch der titelgebende Kindergarten, der seinem Namen jedoch nur bedingt Ehre macht, was vor allem an den anstrengenden bildungsbeflissenen Erzeugern liegt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das gilt auch für Grand, der die Kleinen mit einer Stabpuppenaufführung von Shakespeares "Sommernachtraum" erfreuen will; eine ziemlich schräge Idee, die Haußmann aber plausibel umsetzt. Im Kinderparadies findet auch das ungemein spannende Finale statt, bei dem sämtliche Protagonisten aufeinandertreffen, darunter auch Valeska (Haussmanns Lebensgefährtin Annika Kuhl), Leiterin des Kindergartens und als Frau von Tobias alles andere als unbeteiligt. Ein ohne Frage eigenwilliger, aber dank einer Vielzahl verblüffender Details ungemein reizvoller "Polizeiruf" aus München.