Deutschland hat eine der prägendsten Figuren des Landes verloren. Die evangelische Kirche trauert um den großen Literaturkritiker der deutschen Nachkriegsliteratur, der uns auch als ein wichtiger Zeitzeuge des Holocausts fehlen wird. Wir trauern um Marcel Reich-Ranicki, unsere Gedanken sind bei seinen Angehörigen. Möge unser guter Gott seiner Seele gnädig sein.
Wahrscheinlich hätte er den Wunsch nach Gottes Gnade ebenso brüsk abgelehnt wie im Jahre 2008 den Ehrenpreis des Deutschen Fernsehens. Es gehörte zu seinen Charakterzügen, dass er für Takt und Diplomatie keinen Sinn hatte. "Danach ist nichts", sagte er zu der Frage nach dem Jenseits. Umso mehr wünsche ich ihm, dass er sich in diesem Punkt geirrt hat. Es braucht gar keinen Glauben, um sich dessen sogar sicher zu sein.
Denn seine Taten im Diesseits waren viel zu prägend, als dass er schnell vergessen werden könnte. Marcel Reich-Ranicki wirkt nach - in dem, was er sagte und in dem, was er schrieb. Er, der Meister der Sprache und Rhetorik, war wie kaum ein Anderer in der Lage, noch in seinem letzten Auftritt seines Lebens Wirkung zu erzielen. Als Zeitzeuge trat er bei der Holocaust-Gedenkstunde des Deutschen Bundestags am 27. Januar 2012 auf und erinnerte in bewegenden Worten an das Schicksal der Bewohner des Warschauer Ghettos. Marcel Reich-Ranicki hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass wir sie nicht vergessen.
Die Schönheit von Literatur einem Millionenpublikum gezeigt
Seine Leistungen für Kunst und Kultur haben Spuren hinterlassen, die nicht leicht zu verwischen sind. Als Autor seines autobiographischen Werks "Mein Leben" hat er sich selbst ein kunstvolles Denkmal gesetzt. Als Teil des "Literarischen Quartetts" im ZDF ist es ihm gelungen, die Schönheit von Literatur in einer TV-Unterhaltungssendung einem Millionenpublikum nahezubringen. Die Kirche des Wortes und des Buches verneigt sich vor ihm und ist ihm zu großem Dank verpflichtet.
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Das Leben von Marcel Reich-Ranicki war geprägt von der Suche nach seinem Zuhause. In Polen geboren, nach Deutschland übergesiedelt, als Vertriebener ins Warschauer Ghetto gezwungen, als Überlebender der Nazi-Gräuel auf Umwegen nach Deutschland zurückgekehrt war er ein Suchender. Als halben Polen, halben Deutschen, halben Juden bezeichnete er sich, um dann später zu sagen: "Alles daran stimmt nicht." Nun ist er an der Station angekommen, auf die wir alle zugehen in unserem Leben. Ich wünsche ihm von ganzem Herzen, dass er dort sein Zuhause in Frieden gefunden hat.