Warum uns das 2013 wichtig war: Es gibt Arbeitstage, die sich für immer so anfühlen, als wären sie gestern gewesen. Ich erinnere mich an jedes Detail dieses regnerischen Tages im September. Vor allem an die Gesichter dieser drei Frauen aus Syrien, die geduldig in ihrem kahlen Zimmer im Durchgangslager Friedland saßen. Die Mutter Lamia still und besonnen, die jüngere Tochter Razan nervös, überfordert. Und Majed, die Ältere, mit offenem Blick und voller Zuversicht. Eine Frau in meinem Alter. Hätte ich mich das auch getraut - aus der Heimat weggehen, mit der kranken Mutter und der behinderten Schwester in ein fremdes Land ziehen? Ich bin froh, dass "syrische Flüchtlinge" an diesem Tag für mich Gesichter bekommen haben, dass ich diese drei Frauen kennenlernen durfte. Sie haben mir nach unserem Gespräch ein arabisches Wort beigebracht: Shukran! Danke.
- Anne Kampf, Redakteurin bei evangelisch.de
Eine weiße Baracke im Lager Friedland, auf dem langen Flur stehen Nummern an den Zimmertüren. Razan muss genau hinschauen, damit sie die richtige Tür erwischt. Erst seit ein paar Tagen wohnen sie in diesem Zimmer mit kahlen Wänden und weiß bezogenen Doppelstockbetten. Zwei schwarze Koffer stehen in einer Ecke, in einer anderen ein Rollstuhl. Auf dem kleinen Tisch ein Becher Wasser und ein paar Kekse. Das ist alles. Die drei Frauen sind nur übergangsweise hier, richten sich gar nicht erst ein im Durchgangslager Friedland bei Göttingen: Majed Alkari (34), ihre Mutter Lamia Albadin und die jüngere Schwester Razan Alkhouri (26).
###mehr-artikel### Razan sagt in Gegenwart von Besuchern wenig. Sie wirkt unruhig, scheint sich in der neuen Umgebung noch nicht wohl zu fühlen. Die junge Frau hat das Down-Syndrom. Wenn sie die Baracke verlässt, läuft sie an der Hand ihrer großen Schwester. Die Mutter Lamia kann schlecht laufen, sie sitzt einfach da, ganz ruhig, und überlässt es ihrer älteren Tochter, die Fragen zu beantworten. Majed ist diejenige, die alles organisieren muss. "Ich bin die einzige in unserer Familie, die gesund ist", sagt sie. Schritt für Schritt, besonnen und tapfer sorgt die ältere Tochter dafür, dass es voran geht, dass sie in Sicherheit sind.
Vor einem Jahr sind die drei Frauen aus ihrer Heimatstadt Jaramala bei Damaskus geflohen. Majed hatte ihre Arbeit verloren, weil ihre Firma pleite gegangen war. "Vorher hatten wir ein gutes Leben, aber seit einem Jahr nicht mehr. Wir hatten einfach kein Geld mehr. Das Leben ist dort sowieso komplett zum Stillstand gekommen." Jaramala sei sehr stark bombardiert worden, erzählt Majed, "Wir hatten große Angst und wollten einfach fliehen." Zu dritt machten sie sich auf, nur mit den zwei Koffern. Was sie mitgenommen haben? "Etwas Kleidung und unsere Seelen", sagt Majed und lächelt.
"Wir haben unsere menschliche Würde wieder zurückbekommen"
Unterwegs sahen sie Grenzen, Zäune und Mauern, die drei Frauen hatten Angst. "Wir waren nicht sicher, ob auch der Bus, in dem wir saßen, vielleicht bombardiert würde", erzählt Majed. "Das war ein Risiko, aber wir haben es geschafft. Aber die Angst blieb auch im Libanon bei uns." Im Libanon fanden sie Unterkunft neben einer Kirche. Jeden Tag gingen sie hinein um zu beten, für den Rest der Familie in Syrien und für sich selbst, um Schutz auf ihrer Flucht. Die Kirche gab der christlichen Familie Halt und ein bisschen Hoffnung. Majed glaubt, dass es eine evangelische war.
###mehr-galerien### Im Libanon sei das Leben sehr teuer und sehr schwierig gewesen, erzählt Majed. Als Flüchtlinge hätten sie dort kein Ansehen genossen. Sie wollten weg, weiter, egal wohin. Deshalb schrieben sie sich in eine Flüchtlingsliste der Vereinten Nationen ein. Vor ungefähr einem Monat wurde die Familie angerufen und zu einem Interview gebeten. "Sie haben sie uns gefragt, ob wir einverstanden sind, nach Deutschland zu fliegen. Sie haben gefragt: 'Wollt ihr dort hin?' Wir haben gesagt: 'Natürlich wollen wir das, wir wollen ja einfach nur weg.'" Majed vermutet, dass die Krankheit der Mutter und die Behinderung der jüngeren Schwester ausschlaggebend dafür waren, dass sie zu den 5000 Auserwählten gehören. "Ich kann ja laufen, aber ich muss ganz viele Pausen machen", erklärt ihre Mutter Lamia fast entschuldigend.
So sind sie nun hier. Zunächst für zwei Wochen im Lager Friedland. "Sie haben uns hier sehr herzlich aufgenommen", findet Majed. "Das fing schon am Flughafen an: Da gab es so viele Journalisten, die uns fotografiert haben. Wir haben gedacht: Wir bedeuten denen was. Wir haben unsere menschliche Würde wieder zurückbekommen." In Friedland war das erste Gesicht, das sie gesehen haben, das von Hacub Sahinian. Der arabisch sprechende Diakon und Dolmetscher gab ihnen Sicherheit, umarmte die Neuankömmlinge liebevoll, sagte ihnen, dass sie nun sicher seien und keine Angst mehr haben müssten. "Ich sage nur: Gott sei Dank, dass ich hier bin. Im Vergleich zu dem, was ich in Syrien erlebt habe, ist das hier das Paradies", seufzt Majed voller Dankbarkeit. Nach den stressigen Monaten im Libanon scheint sie hier ein wenig Ruhe gefunden zu haben.
Der größte Wunsch der Mutter: Dass alle Kinder bei ihr sind
Die Familie ist in Kontakt zu anderen Christen im Lager. Leider seien nur vier christliche Familien unter den ersten gut 100 Flüchtlingen im UN-Programm, bedauert Majed, die meisten anderen seien Muslime. "Wir hätten uns gewünscht, dass wir mehr Christen wären, denn die leiden in Syrien gerade am meisten." Ob die beiden Brüder, die mit ihren Familien in Syrien geblieben sind, auch leiden? Ob sie überhaupt noch leben? Die drei Frauen wissen es nicht. Telefonate nach Syrien sind zu teuer, dafür haben sie kein Geld. Wie die meisten Flüchtlinge hier im Lager Friedland bestimmt die Sorge um die Zurückgelassenen die täglichen Gedanken. "Mein großer Wunsch als Mutter", sagt Lamia, "ist, dass in unserer Familie wieder alle zusammenleben wie früher, dass alle Kinder zusammen in einem Haus leben." Sie kann nichts dafür tun, dass dieser Wunsch erfüllt wird.
###mehr-links### Majed denkt pragmatischer. Sie weiß schon, dass sie nach Gelnhausen in Hessen ziehen werden – ein Ortsname, den sie noch kaum aussprechen kann, deswegen zeigt die junge Frau einen Zettel. Sie scheint sich zu freuen, sie hat einen Plan für ihre Zukunft in Deutschland: "In erster Linie will ich die Sprache lernen. Das ist sehr wichtig. Nachdem ich die Sprache gelernt habe, muss ich arbeiten. Das ist mein Ziel." Majed denkt nach vorn und bleibt dabei realistisch, ist sich der Verantwortung für die kranke Mutter und die behinderte Schwester bewusst. Razan sagt nichts, ist mit sich selbst beschäftigt. Lamia schaut ihre große Tochter von der Seite an – ganz ruhig und auch ein wenig stolz.