"Dein Vater und meine Oma sind Enkel von Geschwistern." So hört sich das an, wenn die Nachkommen Martin Luthers über ihre etwas komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse sprechen. Hannelore Masuhr, eine rührige Mittsechzigerin mit Wohnsitz in Leipzig, sagt diesen Satz zu Henriette Rossner-Sauerbier aus Zeitz. Die Schauspielerin und Theaterleiterin stand in den vergangenen sechs Jahren an der Spitze des Familienclans, der einen ebenfalls leicht komplizierten Namen trägt: "Lutheriden-Vereinigung e.V. – Nachkommen von Martin Luther und Katharina von Bora sowie der Seitenverwandten".
Die meisten stammen von Luthersohn Paul ab
Knapp 200 Mitglieder hat der Verein in aller Welt. Gegründet wurde er 1926 in Eisenach durch den Theologen Otto Sartorius, dessen Enkel Werner noch heute bei den Lutheriden aktiv ist, viele Jahre deren Vorsitzender war. Die Gesamtzahl der Lutherabkömmlinge geht wohl in die tausende – so gibt es Zweige in den USA sowie in Holland, wohin 1735 ein Nachfahre des Reformators aus Schulpforta auswanderte. Die meisten Abkömmlinge, so auch die niederländische Linie, führen ihre Herkunft auf Martin Luthers jüngsten Sohn Paul (1533-1593) zurück, der als Mediziner wirkte und Leibarzt des sächsischen Herzogs Johann Friedrich II. war.
Auch Henriette Rossner-Sauerbier liegt auf der paulinischen Linie. "Die Lutheriden wollen den Umgang innerhalb der Familie fördern – im Sinne Martin Luthers, der ja ein wirklicher Familienmensch war", erläutert sie. Mit seinem "Hier stehe ich, ich kann nicht anders" sei der Reformator für sie ein großes Vorbild. "Ich finde es bewundernswert, was er gemacht hat." Von den Luthernachkommen, die sich nun in Augsburg zum Familientreffen versammelten, hat jeder seine ganz eigene Geschichte zu erzählen – doch sie verbindet nicht nur die Herkunft, sondern auch der christliche Glaube.
Das wird schon bei der Andacht deutlich, mit der die Lutherfamilie ihr Augsburger Treffen beginnt. In der Sankt-Anna-Kirche – sie gehörte einst zum Karmeliterkloster, in dem Martin Luther während seines Aufenthalts in der Stadt 1518 wohnte – herrscht eine Atmosphäre zwischen Heiterkeit und Besinnung. Von der Orgel ertönen flohwalzerähnliche Klänge ebenso wie das stolz brausende "Ein feste Burg ist unser Gott". Die Predigt über einen Abschnitt aus Jesus Sirach hält Christian Priesmeier, selbst Lutheride, von Beruf kaufmännischer Angestellter, zugleich Novize im evangelischen Kloster Amelungsborn bei Holzminden. "Eine gesegnete Zeit wünsche ich uns", sagt er zum Schluss.
###mehr-artikel###Christian Priesmeiers Mutter Ingrid, eine rüstige Seniorin mit weißem Haar, die sich bei der Stadtführung unerschrocken durch das Auf und Ab der Augsburger Innenstadt kämpft, berichtet vom Spott der Klassenkameraden, als die Sprache auf ihre Abstammung von Martin Luther kam: "Wenn ich das in der Schule erzählt habe, haben sie mich ausgelacht." Erst als sie ein Buch mitbrachte, in dem sämtliche Ahnen bis zurück zum Reformator und Gründervater der evangelischen Kirche aufgeführt waren, glaubten ihr die Mitschüler.
Ähnliche Erfahrungen haben viele Lutheriden gemacht – und auch diese, wie sehr in den Familien auf die Weitergabe der Tradition und des reformatorischen Erbes geachtet wurde. Kein Wunder, gelten doch Martin Luther und seine Frau Katharina von Bora als Urbild der bürgerlichen Familie und des protestantischen Pfarrhaushalts. Hans Peter Werner etwa wurde über seinen Onkel zum Verein gebracht. "Er hat mich sehr motiviert", erzählt der gebürtige Geraer, der seit vielen Jahren im badischen Lörrach wohnt und für die Finanzen bei den Lutheriden zuständig ist.
"Christliches Gedankengut absichern"
Auch Wolfgang Liebehenschel hat eine klare Vorstellung, was die Abkömmlinge des berühmten Wittenbergers verbindet: "Lutheride heißt, sich dafür einzusetzen, dass der Gedanke der Reformation durch Martin Luther möglichst weit verbreitet ist – dass also christliches Gedankengut abgesichert wird", sagt der frühere Baudirektor in Berlin-Kreuzberg. Der heute 77-Jährige, ein Nonkonformist ganz im lutherischen Geiste, hat sich auch durch seine genealogischen Forschungen einen Namen gemacht: So löste er einen heftigen Forscherstreit um den Geburtsort von Luthers Mutter Margarethe Lindemann (1459-1531) aus; auch Katharina von Boras Geburtsort wurde auf seinen Hinweis berichtigt.
Liebehenschels Mutter hieß selbst Lindemann – seine Familie gehört zur sogenannten Seitenverwandtschaft. Die Nachkommen von Luthers Geschwistern, vor allem von Bruder Jacob (1490-1571) gehören seit der Wiedervereinigung ebenfalls zu den Lutheriden. Während in den Linien von Luthers Kindern der Name des Reformators im 18. Jahrhundert ausstarb, findet er sich in den Seitenlinien bis heute – so etwa bei Monika Luther. "Meine Stiefomi hatte den Martin-Luther-Ring", erzählt die resolute Dame mit Schirmmütze. "Ich war zwölf und traurig, dass ich ihn noch nicht tragen durfte." Erst vor einem Jahr kam sie zu den Lutheriden – nach überstandener schwerer Krankheit: "Ich dachte, es ging zu Ende mit mir." Eine Lebenswende und die Besinnung auf die eigenen Wurzeln.
Seitenverwandte und Angeheiratete
Und neben den Seitenluthers gibt es natürlich noch jene Verwandten, die sich durch Traualtar und Standesamt mit der Reformatorenfamilie verbündeten. "Ich bin in die Gruppe gekommen, weil ich meine Frau geheiratet habe", berichtet Georgius Zygalakis, ein Görlitzer mit griechischen Wurzeln. "Sie ist eine geborene Lindemann." Das Paar heiratete seinerzeit übrigens nicht nur evangelisch, sondern auch orthodox, damit die Ehe auch in Griechenland anerkannt wird. In Augsburg haben die Zygalakis', die heute in Nürnberg wohnen, erstmals ihre Enkelin dabei. "Opa und Oma haben mich gefragt, ob ich mitkommen will", erzählt Anne Lauer, während sie in der Sankt-Anna-Kirche eifrig Fotos schießt. "Da habe ich ja gesagt."
Zu ihrem Familientreffen versammeln sich die Lutheriden alle drei Jahre in einer anderen Stadt, die eng mit Leben und Wirken von Martin Luther verknüpft ist. Was hat der Reformator mit Augsburg zu tun? Erstmals kam er hierher, als er 1511 auf dem Rückweg aus Rom Station bei den Augustiner-Chorherren in Heiligkreuz machte. Sieben Jahre später fand in der Stadt die berühmte Disputation mit dem päpstlichen Legaten Thomas Cajetan (1469-1534) statt. Der Wittenberger Mönch wohnte vom 7. bis 20. Oktober 1518 im Augsburger Karmeliterkloster – die berühmte Lutherstiege sowie ein kleines Museum erinnern heute an den Aufenthalt.
Mönch und Kardinal schrien sich an
Das Verhör durch Kardinal Cajetan fand im Stadtpalast der Fugger statt. Der gefürchtete Dominikaner-Ordensgeneral verlangte von Luther den Widerruf ("revoce!") seiner 95 Ablassthesen. Luther trieb seinerseits den Papstgesandten theologisch in die Enge – es kam zur Eskalation. "Ich fing ungefähr zehnmal an zu reden und ebenso oft donnerte er mich nieder", erinnerte sich der Wittenberger Mönch später. "Schließlich fing auch ich an zu schreien". Cajetan polterte am Ende: "Geh und kehre nicht mehr zurück zu mir, außer dass du widerrufen willst." Luther widerrief nicht. "Gott sei Dank", sagt Henriette Rossner-Sauerbier. Viele Kirchenhistoriker sehen im Disput von Augsburg den eigentlichen Beginn der evangelischen Kirche und Theologie.
Allerdings erinnert in der bayerisch-schwäbischen Metropole bis heute lediglich eine kleine Gedenktafel bei Sankt Anna an diese Geburtsstunde des Protestantismus – vielleicht lässt sich das bis zur 500-Jahrfeier 2018 ändern. Ein Lutherdenkmal stünde Augsburg gut zu Gesicht. Die Stadt blickt auf ein über Jahrhunderte währendes Miteinander der Konfessionen zurück, lange Zeit mussten alle öffentlichen Posten jeweils doppelt besetzt werden – katholisch und evangelisch. Heute ist noch knapp jeder fünfte Augsburger protestantisch, die Hälfte der Bewohner gehören zur katholischen Kirche.
Abgesehen davon findet sich in Augsburg eine Vielzahl reformatorischer Spuren, wovon sich die Lutheriden bei einem ausgedehnten Stadtrundgang überzeugen konnten. So das Barfüßerkloster, in der Lesemeister Johann Schilling 1522 gegen Kirchenverfehlungen, Zölibat und Fuggerherrschaft predigte – in der Kirche, die wenig später protestantisch wurde, spielten Mozart und Albert Schweitzer auf der Orgel, der hier getaufte Bertolt Brecht wurde durch ein Gemälde in dem Gotteshaus zu seinem "Kaukasischen Kreidekreis" angeregt.
Hartes Vorgehen gegen Täuferbewegung
Schilling zählte zu den Vorläufern der Täuferbewegung, die in der Stadt eines ihrer wichtigsten Zentren hatte. Die Obrigkeit ging mit Härte gegen den radikalen Flügel der Reformation vor – am 12. April 1528 wurden in einem Haus in der Augsburger Unterstadt, am Hinteren Lech, zahlreiche Anhänger festgenommen. Einer Frau namens Elisabeth Heggenmiller schnitt man die Zunge heraus, Vorsteher Hans Leupold wurde hingerichtet. Eine Gedenktafel erinnert an die Grausamkeiten.
###mehr-links###Zwei Jahre später wiederum war die Stadt Schauplatz der "Confessio Augustana" – in Anwesenheit von Kaiser Karl V. verlas der sächsische Rechtsgelehrte Christian Beyer im Bischofspalast die bis heute wichtigste evangelische Bekenntnisschrift. Luther, der noch immer geächtet war und vom Tode bedroht wurde, weilte zu dieser Zeit auf der Coburger Veste und hielt engen Kontakt zu seinen in Augsburg weilenden Mitstreitern, allen voran Philipp Melanchthon. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 sorgte schließlich für einen vorübergehenden Ausgleich der Konfessionen. Luther war damals allerdings schon zehn Jahre tot.
Dessen Nachfahren wandelten in Augsburg nicht nur auf historischen Spuren, sondern hatten sich auch mit weltlichen Dingen wie der Pflege des Vereinswesens zu befassen. Bei einer Mitgliederversammlung wurde ein neuer Vorstand der Lutheriden-Vereinigung gewählt. Neuer Vorsitzender ist Martin Eichler aus Dresden. Er war bisher Stellvertreter von Henriette Rossner-Sauerbier – diese wiederum übernahm den Vorsitz des Fördervereins für die Lutheriden-Bibliothek, die im Torhaus der Zeitzer Moritzburg eingerichtet wurde. Die Sammlung genealogischer Bücher zur Lutherverwandtschaft bietet ein unschätzbar wertvolles Betätigungsfeld für interessierte Familienmitglieder sowie die wissenschaftliche Forschung.
Zurück zu den Wurzeln
Luthers finden sich in der ganzen Welt – doch im Kernland der Reformation, in Sachsen-Anhalt und Thüringen, sind besonders viele Nachfahren ansässig. Gerade Zeitz gilt als "Stadt der Nachfahren", wie Wolfgang Liebehenschel. Seit Paul Luthers Sohn, einem Domherren, lebten stets Lutheriden in der Stadt im Burgenlandkreis. So wie Henriette Rossner-Sauerbier, die lange in Westdeutschland lebte und nach der Wende in ihre Geburtsstadt zurückkehrte. Zurückgekehrt zu den Wurzeln, "dahin, wo die Seelen meiner Vorfahren sind", ist auch Hannelore Masuhr, vor ein paar Monaten von Bonn nach Leipzig zog. Seither ist sie noch mehr mit der Verwandtschaft verbunden und kann Sätze sagen wie: "Dein Vater und meine Oma sind Enkel von Geschwistern."
Dieser Text wurde erstmalig am 16. März 2013 auf evangelisch.de veröffentlicht.