Kommen die Kriegstraumata im Alter wieder an die Oberfläche, weil sie in der Nachkriegszeit zu lange verschwiegen wurden?
Helga Spranger: Teilweise ja. Unmittelbar nach dem Krieg wurde häufig nicht viel über die Erfahrungen geredet, schlimme Erlebnisse wurden ausgeblendet. Zudem verhinderte die Scham, als "Tätervolk" Kollektivschuld zu tragen, eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Leiden. Dazu kommen aber auch neurobiologische Ursachen: Wenn Menschen älter werden, nimmt die intellektuelle Kontrolle des Selbst ab. Dadurch kommen unterbewusst empfundene Gefühle und verdrängte Erinnerungs-Sequenzen wieder ans Tageslicht und werden zur Belastung.
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Pflegende Angehörige berichten oft von Angst, auf ihre traumatisierten Eltern oder Großeltern zuzugehen. Hilft es, sie auf ihre Erinnerungen anzusprechen?
Spranger: Die eine Lösung gibt es nicht. Es gibt Menschen, die gerne über ihre Kriegstraumata reden. Andere wehren alles ab: Du hast ja keine Ahnung, was damals los war. Oder die Kriegskinder sagen: Ich habe das doch alles mal aufgeschrieben. Die Verarbeitungsmechanismen sind unterschiedlich. Trotzdem hilft es, die Betroffenen anzusprechen: Ich möchte wissen, worunter du leidest, und deshalb kannst du mir immer wieder erzählen, was sich in deinem Kopf abspielt.
Und was folgt dann?
Spranger: Dann muss abgeschätzt werden, ob man als pflegender Angehöriger selbst helfen kann oder ob man sich therapeutische Unterstützung holen sollte. Es gibt mittlerweile viele geronto-psychotherapeutische Anlaufstellen, an die man sich wenden kann.
"Viele Kriegsenkel, also Kinder der Kriegskinder, kommen an einen Punkt, an dem sie über diese Erfahrungen reden möchten"
Erleben Angehörige die Traumata ihrer Eltern selbst als psychische Belastung?
Spranger: Ja, auch das zählt zu den Spätfolgen. Wer traumatisiert ist, erzieht seine Kinder anders. Viele Kriegsenkel, also Kinder der Kriegskinder, kommen an einen Punkt, an dem sie über diese Erfahrungen reden möchten. Wir haben derzeit geradezu eine "Kriegsenkelbewegung", es gibt sogar Selbsthilfegruppen für Kriegsenkel. Diese Menschen wollen nicht mehr den Mund halten, sondern darüber sprechen, wie sie unter ihren Eltern gelitten haben. Bemerkenswert ist, dass die gebrechlichen Kriegskinder von der Enkel- und Großenkelgeneration gepflegt werden, und zwar insbesondere von Frauen. Es sind also wieder die Frauen, die die Kriegsfolgen auch noch nach Generationen auffangen.
Was muss bei der Pflege dieser Menschen beachtet werden?
Spranger: Wer gepflegt wird - egal ob zuhause von Angehörigen oder im Seniorenheim - ist oft nicht mehr im Vollbesitz seiner körperlich-geistigen Kräfte. In diesem Zustand können Traumata, gerade wenn sie nie behandelt worden sind, nur noch bruchstückhaft zum Vorschein kommen.
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Wie äußert sich das?
Spranger: Nehmen Sie das Beispiel einer Patientin im Pflegeheim, die nachts immer wieder unter ihr Bett flieht. Man muss erst einmal verstehen, warum sie das tut: Vielleicht, weil sie sich vor Vergewaltigungen schützen musste. Angehörige und Pflegepersonal müssen sich klar machen, dass solche Verhaltensweisen keine Spinnereien sind, sondern dass man sie einordnen kann. Sie müssen sich mit diesen Bruchstücken zufriedengeben - und sie müssen sich mit der Biografie der Betroffenen befassen und herausfinden, was damals geschehen sein könnte.
"Die Spurensuche in der eigenen Biografie ist schwierig, aber notwendig"
Welche Therapiemöglichkeiten für die Nachkommen gibt es?
Spranger: Unser Verein therapiert seit zwölf Jahren Kriegskinder in Selbsterfahrungsgruppen. Zunächst müssen die Betroffen verstehen dürfen, worunter sie überhaupt leiden. Seelische Zusammenhänge sollen deutlich werden. Diese Spurensuche in der eigenen Biografie ist schwierig, aber notwendig.
Können auch Erzählcafés helfen?
Spranger: Ich bin gegen Erzählcafés, wie sie häufig gemacht werden. Das bringt, psychotherapeutisch betrachtet, nur kurzfristig eine Entlastung für den Einzelnen. Gespräche sind hilfreicher, wenn es nicht darum geht, die alten Geschichten immer nur zu wiederholen. Es sollte darum gehen, einzuhaken und den Betroffenen dazu zu ermutigen, dass er belastenden Erinnerungen zwar behält, aber seine persönliche Einordnung verändert. Ich selbst arbeite in meinen Therapien häufig mit nonverbalen Methoden. Die Patienten können ihre Erlebnisse zum Beispiel in Bildern verarbeiten. So kann die Spurensuche in der eigenen Biografie vorsichtig begleitet werden.