Foto: epd-bild/Karsten Packeiser
Zwiebeltürme der orthodoxen Verkündigungskathedrale in Kasan, der Hauptstadt der autonomen russischen Teilrepublik Tatarstan.
Kalte Winter gegen religiöse Hitzköpfe
An der Wolga leben Christen und Muslime seit Jahrhunderten nahezu konfliktfrei
Die Hälfte der Bevölkerung Christen, die andere Muslime - Russlands autonome Tatarenrepublik hätte wie Jugoslawien und der Kaukasus zur Krisenzone werden können. Weil es anders kam, sehen sich Russen und Tataren an der Wolga als Vorbild für Europa.
29.09.2013
epd
Karsten Packeiser

Dort, wo sich der Kasanka-Fluss mit der mächtigen, breiten Wolga vereint, verschwimmen hinter weißen Festungsmauern im Kreml von Kasan auch Ost und West, Europa und Asien. Links blitzen in der Abendsonne goldene Kreuze auf den Zwiebeltürmen der orthodoxen Verkündigungskathedrale, rechts Mondsicheln auf den vier hohen Minaretten der prächtigen, neuerbauten Kul-Scharif-Moschee. Und in der Mitte steht seit Jahrhunderten ein schlanker Turm, hoch, schief und so alt, dass niemand mehr weiß, ob er einst von Christen oder Muslimen erbaut wurde.

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Die Millionenstadt Kasan, Zentrum der autonomen russischen Teilrepublik Tatarstan, liegt 800 Kilometer östlich von Moskau. Seit Jahrhunderten besteht die Bevölkerung aus zwei annähernd gleich großen Teilen: den mehrheitlich muslimischen Tataren und den traditionell christlich-orthodoxen Russen - wobei der Anteil der Tataren zuletzt leicht zugenommen hat. Die Nachfahren der gefürchteten "Goldenen Horde", eines mittelalterlichen Mongolenreiches, und die Erben der russischen Eroberer verstehen sich im Großen und Ganzen prächtig. "Wir sind Brüder, keine Feinde", sagt der orthodoxe Metropolit von Tatarstan, Anastassi.

Verfolgung durch Kommunisten hat Muslime und Christen zusammengeschweißt

Der 69-Jährige erzählt, dass viele führende Geistliche beider Religionen befreundet seien. Zu viel interreligiöses Miteinander kommt in der orthodoxen Kirche Russlands nicht überall gut an. Der Metropolit von Tatarstan aber hat nichts dagegen, wenn seine Priester die Moscheen der Nachbarschaft besuchen, um gemeinsam zu feiern. "Die werden deswegen schon nicht gleich konvertieren", gibt sich er gelassen. In Tatarstan fühlten sich Christen und Muslime auch deshalb einander so nahe, weil sie in der kommunistischen Zeit ähnliche Verfolgung erlebt hätten.

Der orthodoxe Metropolit der russischen Teilrepublik Tatarstan, Anastassi.

"Man darf in der Religion und speziell im Islam kein Problem sehen", sagt Mufti Kamil Samigullin. Der Geistliche, der im Frühjahr mit gerade 28 Jahren zum Oberhaupt der tatarischen Muslime gewählt wurde, empfängt Besucher in traditionellem Gewand mit weißem Turban und kunstvoll besticktem Umhang. Er glaubt, das russische Klima sei für den religiösen Frieden in der Region mitverantwortlich: "Wir Tataren leben in kalten Ländern, da werden die Gemüter der Hitzköpfe etwas abgekühlt."

Gemeinsame Viertel, gemischte Ehen

In Kasan nimmt man es mit dem Glauben ohnehin nicht ganz so ernst. Russen und Tataren wohnen seit Jahrhunderten gemeinsam in denselben Vierteln, es gibt unzählige gemischte Ehen - obwohl gerade bei diesem Thema die Toleranz der Religionen an eine Grenze stößt. Denn die Vorschrift, dass eine muslimische Frau keinen christlichen Mann heiraten darf, hat nicht einmal der liberale tatarische Islam abgelegt. Allerdings fragt andererseits kaum ein russisch-tatarisches Paar vorher den Imam um Erlaubnis.

Nicht immer ging es in den Weiten Eurasiens derart einträchtig zu. Bis heute gilt das 300-jährige Tataren-Joch im kollektiven Bewusstsein der Russen als nationale Tragödie. Die mongolischen Reiterheere hatten im 13. Jahrhundert die russischen Fürstentümer überrannt und für Jahrhunderte von den Entwicklungen in Europa abgeschnitten. Als Iwan der Schreckliche schließlich 1552 Kasan eroberte, ließ er die Tataren-Hauptstadt dem Erdboden gleichmachen. Erst Katharina die Große (1729-1796) erlaubte den Muslimen, wieder eine Moschee in der Stadt zu bauen. Inzwischen sind es über 70.

Trotz Anschlägen Einfluss der Extremisten zurückgedrängt

Eine perfekte religiöse Idylle herrscht in der Wolga-Republik allerdings auch heute nicht. Längst haben sich im Untergrund extremistische muslimische Zirkel gebildet. Im Juli 2012 wurde das Oberhaupt der tatarischen Muslime, Samigullins Vorgänger Ildus Faisow, bei einem Bombenanschlag schwer verletzt und sein Stellvertreter Waliulla Jakupow mit sechs Kugeln kaltblütig erschossen. Beide Geistliche hatten gegen den Einfluss der Extremisten angekämpft.

Mufti Kamil Samigullin ist Oberhaupt der tatarischen Muslime.

Dabei seien die beiden erfolgreich gewesen, sagt Samigullin: "Es gibt in der ganzen Republik keinen einzigen radikalen Imam mehr." Die geistliche Verwaltung wolle die theologische Ausbildung in Russland weiter stärken, damit niemand mehr zum Studium nach Saudi-Arabien oder in die Türkei gehen müsse. Insbesondere die Saudis stehen an der Wolga im Ruf, mit großzügigen Finanzhilfen extremes Gedankengut in den traditionellen Gemeinden zu verbreiten.

Islam unter staatlicher Kontrolle

Die Regierung bemüht sich indes, den Islam in der Region unter Kontrolle zu behalten: In Tatarstan existieren keine offiziell registrierten islamischen Gemeinden außerhalb der geistlichen Verwaltung mit dem Mufti an der Spitze. Ähnlich sollten auch die Europäer vorgehen, wenn sie einen gemäßigten Islam etablieren wollten, findet Samigullin: "Solange Sie keine klaren Strukturen schaffen, wird jeder reden, was er will."