Foto: Nicole Maskus/laif
Analphabeten: die Wahl, ein Hindernislauf
Komplizierte Wahlunterlagen, unübersichtliche Stimmzettel und Hinweisschilder in kleiner Schrift - Wahlen können Menschen mit Lese- und Schreibschwäche schnell überfordern. Viele Betroffene trauen sich nicht einmal, in ein Wahllokal zu gehen.
05.09.2013
epd
Hanna Jochum

Petra Groß ist eine hünenhafte Frau. Mit ihrer kurzen Strubbelfrisur und den roten Pausbacken wirkt sie unerschütterlich. Doch vor ihrem ersten Gang zur Wahlurne war sie ganz schön aufgeregt, wie die 47-Jährige rückblickend gesteht. Denn Groß hat eine Lernschwäche. Bereits einfache Texte bereiten ihr Probleme. "Ich brauchte erst mal den Hinweis: Was ist eine Wahl, was machen die Politiker", erinnert sie sich.

Doch Groß ist politisch veranlagt, wie sie sagt. Daher wisse sie mittlerweile, was bei Landtags- und Bundestagswahlen auf sie zukomme. Das geht allerdings nicht allen Wahlberechtigten in Deutschland so. Komplizierte Wahlbenachrichtigungen können eine unüberwindbare Hürde sein. Oft fehlt es auch an brauchbaren Informationen schon vor der Wahl selbst.

Jeder siebte Deutsche ist funktionaler Analphabet

Petra Groß machte daher bei einem Wahllokal-Test der "Aktion Mensch" in München auf die Probleme der Wähler mit Lern- und Sinneseinschränkungen aufmerksam: Sie verlangt, dass Politiker auf ihr Fachchinesisch verzichten und stattdessen simple Sätze nutzen. Zudem plädiert sie für bebilderte Hinweisschilder zum Wahllokal.

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Ebenso denkbar seien Parteilogos auf dem Stimmzettel. "Ich fordere auch, dass Wahlunterlagen einfacher werden mit größerer Schrift", betont die Frau aus Kassel, die für ihr Engagement bereits mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden ist.

In Deutschland leben etwa 7,5 Millionen Menschen mit einer Lese- und Schreibschwäche. "Wir haben 14,5 Prozent funktionale Analphabeten unter den Erwerbstätigen", sagt Wilhelm Lang, Direktor des bayerischen Volkshochschulverbands, unter Berufung auf die Analphabetismus-Studie "Leo". Die Betroffenen können nur sehr einfache Texte lesen und nur schlecht oder fehlerhaft schreiben.

Auf die eigene Schwäche aufmerksam machen

Die meisten seien daher nicht in der Lage, Wahlprogramme zu verstehen und die Parteien zu vergleichen, erläutert Monika Tröster, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Institut für Erwachsenenbildung. Den Betroffenen falle es schwer, zwischen Bundes- und Landtagswahlen zu unterscheiden. Oder die Bedeutung von Erst- und Zweitstimme sei nicht bekannt. Funktionale Analphabeten fühlten sich da schnell überfordert.

Petra Groß kennt das Gefühl. "Man muss wissen: Was macht die Partei, will ich die überhaupt wählen?" In ihrem Umfeld gebe es viele Betroffene, die sich nicht trauten, ihre Stimme abzugeben.

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Häufig fürchteten Menschen mit Lese- und Schreibschwäche, in eine unangenehme Situation zu geraten, etwa wenn sie sich im Wahllokal nicht orientieren können oder den Stimmzettel nicht verstehen, erläutert der Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung, Peter Hubertus. Aus Scham lehnten viele Betroffene Unterstützung ab. Hilfe anzunehmen, bedeute nämlich: sich outen und auf die eigene Schwäche aufmerksam machen, weiß Hubertus.

Der Münchner Franz Schubert (Name geändert) beispielsweise lässt sich vor Wahlen stets von einer langjährigen Freundin informieren. Denn bisher fassen nur sogenannte Wahlprüfsteine die Kernthesen der großen Parteien in einfacher Sprache zusammen. "Also ganz deppert bin ich auch nicht. Ich weiß schon, was ich will", betont der 59-jährige gelernte Maurer. Nur alleine lesen könne er eben nicht so gut. Daher sei ein Austausch auf Vertrauensbasis so wichtig.

Für Petra Groß ist ausschlaggebend, dass sich Menschen mit Lernschwäche nicht verstecken - vor allem nicht bei einer Wahl. "Man muss von sich aus aktiv werden", appelliert sie an alle Betroffenen.