Die Dame hat sich mit zwei Handvoll Frankfurtern auf dem Gehsteig vor der Matthäuskirche versammelt. Sie sind hier um Informationen zu bekommen. Und ein wenig Rechtfertigung. Schließlich befindet sich das Bild an der Fassade "ihrer" Kirche.
Die Matthäuskirche steht in einem Spannungsfeld. Auf der einen Seite das Bahnhofs- und Gutleutviertel, denen nur Wohlwollende die Etiketten "hat Charme" und "gut bürgerlich" verpassen. Auf der anderen Seite schicke Banken, das große Geld. Die Zeiten, in denen die Gottesdienste in der Matthäuskirche gut besucht waren, sind vorbei. Ein paar Stuhlreihen reichen heute aus. Stuhlreihen, nicht Bänke. Die hat man schon aussortiert. Die Matthäuskirche befindet sich in "Zwischennutzung". Bald soll auf dem Grundstück ein Ensemble hoher Häuser gebaut werden. Die Kirche bleibt. Die Gottesdienste auch. Ebenso die Orgel. Wirtschaft und Religion wollen sie hier vereinen. Das hat schon gut funktioniert, als man Europäische Zentralbank und Occupy an einen Tisch brachte.
Fast eine Legende in Brasilien
Auch Veranstaltungen, Konzerte, Ausstellungen wollen sie in die Kirche holen. Mit dem Graffito ist der Anfang gemacht. Speto, der Künstler, sprüht und malt hier im Auftrag der Schirn Kunsthalle. Die neustes Veranstaltung trägt den Titel "Brazil Street-Art" - angelehnt an das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. "Wir sind nach Brasilien gefahren, um in die Kunst des Landes einzutauchen", erzählt Carolin Köchling, Kuratorin der Ausstellung. "Uns war schnell klar: Wir brauchen Graffiti-Künstler."
Denn in Brasilien, so Köchling weiter, sind Graffiti in der Betonwüste São Paulo omnipräsent. "Kunst im öffentlichen Raum dient in Brasilien der Erziehung. Analphabeten lesen keine Broschüren oder Wahlprogramme. Ein Graffito aber versteht jeder", ergänzt der 40-jährige Speto. Beinahe schon eine Legende in der Künstlerszene Brasiliens.
Der Kirchenvorstand Wolfgang Nethöfel strahlt. Es war eine mittlere Herausforderung, dieses Projekt bei seinen Vorstandskollegen durchzubekommen. Einem Brasilianer freie Hand zu lassen, einem Künstler, der sonst Häuserwände besprüht. Ist das nicht illegal? Was sollen solche Schmierereien? Künstlerische Freiheit? Und was, wenn er sich austobt und wir dann Obszönitäten auf unserer Kirche haben? Diese Was, Wenn, Abers wischte Nethöfel beiseite: "Wir trauen uns das jetzt. Das wird großartig."
"Bei den Brasilianern sind Graffiti heute nicht nur toleriert, sie sind akzeptiert und geschätzt", weiß Speto. Bei den Frankfurtern ist es noch nicht so weit. Jedenfalls bei den Kirchgängern, die vor ihm stehen, und denen der Künstler persönlich sein Werk erklärt.
Politische Bilder, subtile Kritik
Dass ein Künstler sein Werk "rechtfertigt", kommt selten vor. Doch Speto kommt gerne ins Gespräch mit den Betrachtern seiner Wandmalerei, erzählt die Geschichten dahinter. Es ist seine erste Kirche und sein größtes Graffito bisher. "Dass ich auf einer Kirche malen darf, ist eine Ehre für mich."
###mehr-links### Das Sprayen von Graffiti kam in den Siebzigerjahren in New York auf, kam Mitte der Achtziger verspätet nach Brasilien. 1985, nach Jahrzehnten der Militärdikatatur und des Schweigens, taten die Menschen mit Kunst an Häuserfassaden ihre Meinung kund. "Die Gemälde sind unheimlich politisch, aber ebenso subtil. Dort finden sie keine Queen mit Irokesenschnitt, die Provokationen sind sehr subtil." Vom US-amerikanischen Vorreiter haben sich die Brasilianer längst gelöst. Sie holen sich ihre Inspiration im Indigenen.
Und auch Speto ist höchst politisch. Am Anfang stand die Geschichte. Eine selbstverfasste Geschichte, angelehnt an die nordbrasilianische Tradition der "Literatur de Cordel", mystische Erzählungen, die illustriert waren mit Holzschnitten - breite Flächen, markante Linien. Im 17. Jahrhunderts mischten sich indigene Legenden, christliche Motive der europäischen Einwanderer und die Kultur Afrikas. Die Cordel-Dichtungen wurde damals als Kommunikationsmittel eingesetzt – sehr ähnlich dem Graffiti heute.
Lieferant des Todes
Speto beschreibt einen skurrilen Tag eines brasilianischen "Motoboys", also eines Kurierfahrers auf einem Motorrad in den hektischen Straßen São Paulos. Er ist einer von 220.000 in São Paulo – davon sterben jeden Tag etwa vier. Doch Spetos Kurier ist ein besonderer: Er liefert für den Tod dessen Botschaft an die Leute. Dieser spezielle Kurier tut das, weil er für seine kleine Tochter sorgen muss. Doch dann bittet der Tod zu einem Treffen. Der Motorradkurier ist schlau und so vorausplanend, dass er am Treffpunkt sämtliche Vorkehrungen trifft. Der Tod hat einen letzten Auftrag an den Kurier: Er soll seiner eigenen Tochter den Tod liefern. Es kommt zum Kampf, den der Motorradkurier gewinnt. Er gibt seinen gefährlichen Job auf und sichert so die Zukunft für ihn und seine Tochter.
Diese Geschichte greift Speto in seinem Wandbild auf. Den "Motoboy" stellt er auf seiner über 20 Meter hohen Leinwand dar. Der Motorradkurier, seine Tochter, ein Milchzahn und eine Tüte Eis. Und eine Kirche im Kopf des Kuriers - mit Herz. "Das Herz steht für Vergebung. Jeder Mensch hat eine Seele, das sollten wir nicht vergessen. Wir sollten uns kein vorschnelles Urteil über einen Menschen erlauben, weil wir nicht wissen, was dieser Mensch und seine Seele durchmachen musste." Die skeptische Dame ist begeistert: "Das passt so gut. Unsere Gemeinde heißt ja auch "Hoffnungsgemeinde". Beide lächeln. Noch so eine Art - neben der Kunst - zu kommunizieren, die jeder versteht.