Frau Oxen, Sie sind in Westdeutschland aufgewachsen, arbeiten aber seit neun Jahren im Osten. Hat das Ihren Blick auf die Kirche verändert?
###mehr-personen### Kathrin Oxen: Ich muss sagen, ich habe im Osten jegliche Angst vor Schrumpfungsprozessen verloren! Die Kirche wird sich wohl auch im Westen zu einer Minderheit entwickeln. Aber ich finde das nicht besonders schlimm. Wenn man auf die ganze Geschichte schaut, wird einem klar: Es war eine Sondersituation, dass die Kirche in den letzten Jahrzehnten so reich und wichtig war. Vielleicht kommen wir jetzt allmählich dem wieder näher, was unser Gründer gemeint hat: Wir sind eben nicht der Mainstream, sondern sollen Salz der Erde sein!
Sie sagen, Sie haben jede Angst vor Schrumpfungsprozessen verloren. Können Sie das am Beispiel von Ost und West näher erklären?
Oxen: Ich habe keine Angst mehr davor, weil ich hier im Osten sehe: Das, was Kirche wirklich ausmacht, ist auch unabhängig von äußeren Bedingungen möglich. Den Gemeinden im Westen kann ein Blick nach "drüben" helfen, wesentliche von unwesentlichen Aufgaben der christlichen Gemeinden zu unterscheiden.
Zum Beispiel?
Oxen: Ich denke da an alles, was ins bloße Vereinsleben tendiert – wo der geistliche Inhalt kaum noch eine Rolle spielt. Das können Kaffeekränzchen sein, Ausflüge, Sport, Basare et cetera. Vieles davon kann in großen Landgemeinden des Ostens mangels Geld und Personal nicht stattfinden. Und das ist aus meiner Sicht auch kein großer Verlust. Denn das, was eine Gemeinde ausmacht, die an Gott und Jesus Christus glaubt, findet trotzdem statt.
"Das Potential des klassischen Gottesdienstes ist nicht ausgeschöpft"
Manche empfehlen, die Kirche solle mehr alternative Gottesdienstformen anbieten, zugeschnitten auf Milieus, die bisher kaum erreicht werden.
Oxen: Das überzeugt mich wenig. Ich finde, unser Sonntagsgottesdienst ist eine wunderbare Sache, die nicht ständig variiert, sondern eher intensiviert werden muss – in der bestehenden Gestalt. Das Potential des klassischen Gottesdienstes ist nicht ausgeschöpft. Es braucht keine Zielgruppen-Gottesdienste, wenn die Liturgie und Predigt gut gestaltet ist und die, die kommen, gut bedacht sind – auch die Kinder. Und ansonsten ist meine Erfahrung hier im Osten auch: Es gibt eben einfach Leute, die haben keine Sinnfragen – und sind trotzdem zufrieden. Es fehlen manchmal eben nicht nur die Angebote, sondern die Nachfrage.
Sie leiten in Wittenberg das "Zentrum für Predigtkultur" der EKD. Wollen Gottesdienstteilnehmer heute überhaupt noch angepredigt werden?
###mehr-artikel### Oxen: Natürlich nicht. Sondern sie wollen Predigten hören, die etwas mit ihnen und ihrem Leben zu tun haben – und vor allem auch etwas mit dem Leben der Predigerin. Es geht um Glaubwürdigkeit. Unsere Erfahrung zeigt, dass die Prediger immer noch sehr zurückhaltend sind, auch eigene Dinge in der Predigt öffentlich zu machen.
Ist das wirklich so? Oft bekommen die Hörer ja eine ganze Menge Beispiele aus dem Pfarrhaus aufgetischt.
Oxen: Es gibt auch so eine Pseudo-Authentizität, die gerade nichts blicken lässt, sondern eher etwas inszeniert. Wir versuchen zu fördern, dass die Prediger wirklich auch von sich selbst reden. Und zwar in der Unterscheidung von "privat" und "persönlich". Niemand möchte Details aus dem Privatleben der Pfarrerin hören. Aber was sie persönlich in der Auseinandersetzung mit dem Bibeltext erlebt, hören die Menschen schon ganz gern.
Kann die alte biblische Sprache heutige Menschen überhaupt noch erreichen?
Oxen: Na klar! Die kann das oft sogar besser als die Predigtsprache. Ich persönlich habe als Predigerin oft das Gefühl, ich bin nur dazu da, um den Bibeltext richtig zur Wirkung zu bringen – mehr muss ich eigentlich gar nicht machen. Die Kraft kommt ja nicht aus mir, sondern aus den Geschichten, die da erzählt werden.
"Eine gute Predigt sollte so beschaffen sein, dass sie in den Köpfen der Menschen Bilder erzeugt"
Wie kann die evangelische Kirche als eine "Kirche des Wortes" in einer Zeit der Bilder bestehen?
Oxen: Das Wort hat ja weiterhin Bedeutung. Denken Sie nur daran, wie manchmal ein Satz aus einer Rede Menschen und politische Verhältnisse bewegen kann! Wenn Prediger den Bildern ein bisschen Konkurrenz machen wollen, sollten sie schauen, dass ihre Sprache nicht zu abstrakt ist, sondern bilderreich. Eine gute Predigt sollte so beschaffen sein, dass sie in den Köpfen der Menschen Bilder erzeugt, die ihnen noch lange nachgehen und bei ihnen bleiben.
Und die Inhalte? Wie sollte christliche Rede in einer nachchristlichen Zeit aussehen?
###mehr-links### Oxen: Da sehe ich zwei unterschiedliche Bereiche: Nach innen – für die Kirchennahen – sollte die Predigt geistliche Nahrung und Stärkung geben. Sie sollte ermöglichen, dass die Leute weiterkommen, dass sie ihre positiven und negativen Erfahrungen im Glauben und Leben integrieren können.
Aber nach außen hin darf unsere Rede gern auch mal beunruhigen, aufstören, befremden! Sie sollte nicht immer so erwartbar sein. Wir sollten in der Predigt nicht den gesamtgesellschaftlichen Konsens einfach nochmal wiederholen, sondern auch mal sperrige, ungewohnte Aussagen wagen.
Woran denken Sie da zum Beispiel?
Oxen: (überlegt) Mich beeindruckt der neue Papst Franziskus: Mit seinem oft überraschenden Verhalten zeigt er, dass es immer auch anders geht, als man erwartet. Vonseiten der evangelischen Kirche erlebe ich das derzeit weniger. Deren prophetisches Element steht gerade auf Stand-by...
"Die Zeit der großen ethischen und politischen Predigt scheint vorbei zu sein"
Bei welchem Thema würden Sie mal richtig auf die Pauke hauen?
Oxen: Die Zeit der großen ethischen und politischen Predigt scheint vorbei zu sein. Ich frage mich: Was kommt jetzt? Leben wir wirklich schon in der besten aller möglichen Welten? Das Anstößige der biblischen Botschaft wird momentan eher glattgebügelt. Oder fällt unter den Tisch. Ich denke da zum Beispiel an die Situation der Asylbewerber und "Illegalen" hier, an die Flüchtlingskinder in Syrien oder an die Migranten an Europas Außengrenzen. Da sind wir als Kirche relativ still. Ich würde mir wünschen, dass unser Blick mal ein bisschen über den innerevangelisch-deutschen Tellerrand hinausgeht!
Sie selbst waren mehrere Jahre Pfarrerin in Mecklenburg. Wie sah bei Ihnen die ideale Vorbereitung auf eine Predigt aus?
###mehr-info### Oxen: Ich finde es sinnvoll, schon am Montag mal den Bibeltext für die Sonntagspredigt anzuschauen, Hintergründe nachzulesen und dann die folgenden Tage mit dem Text "schwanger zu gehen". Ich versuche dann, das, was ich unter der Woche erlebe – Gespräche, Begegnungen, Weltereignisse – zu dem immer wieder meditierten Predigttext in Beziehung zu setzen. Das ist ja ein klassisches Modell: In der einen Hand die Bibel, in der anderen Hand die Zeitung! Wenn man damit erst am Samstagmittag anfängt, dann ist das nicht das Gleiche. Deshalb sind viele Predigten auch so entfernt von der Situation der Zuhörer. So eine Predigt muss allmählich wachsen und zwischendurch ruhen.
Ihr Wittenberger "Zentrum für Predigtkultur" hat ein besonderes Projekt für Jugendliche entwickelt: "Jugend predigt". Es findet jetzt das dritte Mal statt. Was hat es damit auf sich?
Oxen: Bei "Jugend predigt" arbeiten wir jedes Jahr mit zehn Jugendlichen an einer von ihnen verfassten Predigt, am Text und am Auftreten. Wir möchten sehen, was eigentlich die theologische Meinung von Jugendlichen ist und wie sie die zur Sprache bringen. Das kommt ja sonst in der Jugendarbeit oft zu kurz. Wir haben dabei immer wieder festgestellt, dass Jugendliche sehr tiefgründig und glaubwürdig predigen können. Sie stehen uns Erwachsenen in nichts nach. Sie haben tollen Zugang zu biblischen Texten!
Oxen: Die Jugendlichen aus unserem Workshop haben auch vor Konfirmanden gepredigt. Da gab es eine ganz hohe Aufmerksamkeit, weil die Konfis gemerkt haben: "Das sind Leute, die sind gar nicht soviel älter als wir und trotzdem stellen die sich da vorne hin und erzählen uns, was ihnen wichtig ist!" So eine Erfahrung wäre auch gut für andere Predigtsituationen – dass die Hörer das Gefühl haben: "Die Prediger sind nicht weit von uns weg. Die sind nahe bei uns. Die kennen unser Leben."
Was war denn das überraschendste Kompliment für eine Ihrer Predigten?
Oxen: Das habe ich von meinem 27-jährigen Bruder bekommen, der nicht besonders kirchlich ist. Er hörte mal eine meiner Predigten. Hinterher sagte er mir: "Du predigst immer so demokratisch!" Das fand ich gut. Das ist eben das Gegenteil von Anpredigen. Er hat sich mit hineingenommen gefühlt und mir gesagt: "Du hast mir als Zuhörer Freiheit gelassen, mich einzuklinken oder auch nicht. Du hast keine bloßen Behauptungen aufgestellt, mich nicht versucht zu überreden." Das hat mir gut gefallen.