Herr Hirsch-Hüffell, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit verschiedenen Möglichkeiten, Gottesdienst zu gestalten. Ist der Gottesdienst auch ein bisschen Theater?
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Thomas Hirsch-Hüffell: Ja, alle Gottesdienste sind ein ernstes Spiel. Wie ein Kind ganz vertieft mit seiner Puppe Lebensvollzüge nachspielt, führen auch wir mit unseren liturgischen Ritualen das Leben selber auf – und zwar in verdichteter Form. Bei einem guten Film oder Theaterstück vergisst man, dass man im Theater ist. Man ist ganz in die Handlung eingetaucht. Das kann auch im Gottesdienst geschehen.
Was kann ein gelungener Gottesdienst bewirken?
Hirsch-Hüffell: Man sollte heller und gehobener herauskommen als man hineingegangen ist. Der Mensch hat neben Supermarkteinkäufen, Kinderbetreuung, Stromrechnung zahlen und der üblichen Freizeitgestaltung auch noch eine größere Dimension, eine andere Würde, nämlich sich in einem Weltall zu befinden, in einem größeren Zusammenhang, den er nie ganz überschauen wird. Im Gottesdienst werden diese Proportionen wieder zurechtgerückt: Wir werden daran erinnert, dass wir eine Krone auf dem Kopf tragen, dass wir zu etwas ganz Großem gehören, das wir auch staunend anbeten können. Und das tut Menschen gut. Es kann sie erheben und entlasten.
"Gerade im evangelischen Bereich gibt es eine große Wiese von wild wachsenden Gottesdienstformen, die sich vor allem an Kirchenferne richten"
Welche Rolle spielt der Gottesdienst im Kontext der Kirche, der "Gemeinschaft der Heiligen"?
Hirsch-Hüffell: Er bietet ihr Vergewisserung, die Möglichkeit, wieder eintreten zu können in das Sauerstoffzelt der Seele, wo ein paar wichtige alte Wahrheiten wiedergekäut werden. Das zweite ist die Wirkung des Gottesdienstes nach außen – wenn etwa der Papst mit einer Million Leuten am Strand von Rio eine Messe feiert. Mit solchen Riten setzt man sich einer kritischen Öffentlichkeit aus und sagt: "Wir wollen das auch zeigen, was wir lieben!" Das wollen ja alle Liebenden. Der Gottesdienst hat also eine Innen- und eine Außendimension.
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Haben wir diese Außendimension zu sehr aus dem Blick verloren? Müssten wir eigentlich vielmehr nach außen gehen, die Leute überraschen oder heilsam befremden?
Hirsch-Hüffell: Wenn Sie da den klassischen Sonntagmorgen-Gottesdienst im Blick haben, würde ich sagen: Man darf ihn nicht überfordern. Er ist der Eintopf, die regelmäßige Mahlzeit für die, die schon da sind. Aber er erfüllt keine missionarischen Zwecke. Er setzt relativ viel Wissen voraus. Man muss ihn mögen gelernt haben. Aber es gibt ja längst nicht mehr nur den einen allein seligmachenden Sonntagsgottesdienst. Das ist vorbei! Gerade im evangelischen Bereich gibt es eine große Wiese von wild wachsenden Gottesdienstformen, die sich vor allem an Kirchenferne richten. Die finden oft jenseits der Kirchengebäude statt, etwa in einer Turnhalle oder auf einer Büroetage. Es wäre aber zu kurz gegriffen, wenn man sagt: "Der Sonntagsgottesdienst ist langweilig, den schaffen wir jetzt ab und machen nur noch verrückte Sachen!" Es braucht ja auch eine Binnenstabilität.
Wie können wir Toleranz lernen für die anderen Gottesdienststile?
Hirsch-Hüffell: Indem man hingeht und sie kennenlernt – wieder und wieder. Auch mal in die katholische Messe. Dann lernt man, dass es auch andere Wege gibt neben dem eigenen.
Gleichzeitig haben wir den Auftrag, eine Gemeinschaft zu bleiben. Wie können wir vermeiden, uns völlig in liturgische Parallelgesellschaften zu zersplittern?
Hirsch-Hüffell: Wir sind momentan auf einem Entdeckungsweg und müssen da nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Das gottesdienstliche Leben differenziert sich aus – wie alles andere im Leben heute auch – und es wird bedarfsorientiert. Ich halte das per se erstmal nicht für schlecht. Aber das hat einen Preis, in der Tat! Man wird mit Zielgruppen arbeiten, und die haben dann unter Umständen miteinander nichts zu tun.
"Man spürt es jemandem ab, ob er außerhalb des Gottesdienstes ein eigenes Gebetsleben pflegt oder nicht"
Was ist heute die größte Gefahr für den evangelischen Gottesdienst?
Hirsch-Hüffell: Viele, die den Gottesdienst leiten, denken, ihr Tun habe eher was mit Performance, mit einer Aufführung für andere zu tun. "Ich biete euch einen Gottesdienst an", lautet eine verbreitete Grundhaltung. Seltener ist das Bewusstsein: "Ich vollziehe ein öffentliches Gebet." Man spürt es jemandem ab, ob er außerhalb des Gottesdienstes ein eigenes Gebetsleben pflegt oder nicht. Viele Liturgen müssen ihr eigenes Terrain erst wieder kennen und lieben lernen. Es ist für sie neu, das man selber mitfeiern und mitbeten kann.
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Wie lässt sich das lernen?
Hirsch-Hüffell: Da braucht es so etwas wie eine Gebetsschule. Wenn man die Qualität absichtsvoll ansteuert, wird das nichts. Denn das wächst von innen her. Wenn die innere Haltung stimmt, passiert das Äußere fast von selber. Und das spüren die Leute, die am Gottesdienst teilnehmen. Sie wollen angeleitet werden von jemandem, der ihnen glaubwürdig zeigt, wie "fromm sein" geht. Jemandem, der öffentlich meditiert und sie durch den heiligen Raum führt. Das beeindruckt sie. Das suchen sie. Und da werden sie auch wiederkommen. Frömmigkeit ist auch Handwerk. Wer die liturgischen Formen liebt, der wird sie mit der Gemeinde einüben und verschiedene Varianten ausprobieren – auch mal jenseits des Gottesdienstes.
Viele evangelische Pfarrer fühlen sich unter Originalitätsdruck. Wie kann man Sie davon entlasten?
Hirsch-Hüffell: Oft ist das selbstgemachter, unnötiger Druck. Der Gottesdienst am Sonntag ist die Erbsensuppe für die Eingefleischten. Und der wird treu und liebvoll und wach gestaltet – auch zugunsten der eigenen Frömmigkeit. Da braucht es kaum originelle Ideen. Wenn man wirklich die Leute "anmachen" will – im guten Sinne – dann macht man einen Sondergottesdienst oder man geht hin zu den Leuten, aufs Schützenfest oder wo immer sie sind.
"Es wäre total nötig, dass die Gemeinden rausgehen auf die Plätze, wo die Leute sind und sich auch da mit ihrem Ritus zeigen"
Nicht allen ist es gegeben, kirchenferne Leute "anzumachen" durch ein liturgisches Methoden-Feuerwerk...
Hirsch-Hüffell: Dann werden sie eben nicht angemacht. Lieber originell sein bei einer Bestattung oder Hochzeit, denn da kommen ja Leute, die sonst nur selten in der Kirche sind. Und die merken sich das, wenn das gut geklappt hat.
Welche Rolle sollte der Gottesdienst in der Kirche der Zukunft spielen?
Hirsch-Hüffell: Ich glaube, dass eine Kirche der Zukunft mal eine Weile "aus dem Häuschen" sein muss! Das merkt man zum Beispiel in Ostdeutschland: Dort gibt es über 50-Jährige, die noch nie einen Fuß über eine Kirchenschwelle gesetzt haben. Da wäre es total nötig, dass die Gemeinden rausgehen auf die Plätze, wo die Leute sind und sich auch da mit ihrem Ritus zeigen. Wo das geschieht, passiert ganz viel. Da sagen Leute: "Wenn du zu uns kommst, dann kommen wir auch mal zu dir."
So ein "Coming-Out" ist eine heikle Sache...
Hirsch-Hüffell: Ja, das will gelernt sein. Und ein Zweites: Es wäre gut, wenn in unseren Kirchen mehr Menschen verkündigend zu Wort kämen als nur immer dieselben "Häuptlinge". Auch Ingenieure oder Malermeister sollten in der Kirche endlich Gehör finden mit ihren Ansichten und Erfahrungen, mit dem, was sie lieben. Die haben wichtige Erkenntnisse, von denen wir lernen können. Ob die christlich sind oder nicht, ist mir dabei völlig wurscht. Mithilfe dieser "Lebensexperten" müssen wir Theologen wieder lernen, in der Welt zu lesen – und zwar geistlich. Wir sind vernagelt durch lauter theologische Kategorien wie "Sünde", "Kreuz" und "Heil" und können mit Wirklichkeitsphänomenen um uns herum nicht umgehen. Unsere Theologie ist oft nicht wirklichkeitsfähig! Deshalb ist auch kirchliche Rede belanglos, wenn sie nicht genau hinguckt, was die Leute erleben.