Als Kind hat Torben* seine Adoptivmutter zur Verzweiflung getrieben. An einem Tag kannte er den Schulweg, am nächsten Tag verlief er sich. An einem Tag konnte er "vier mal vier" rechnen, am nächsten Tag wusste er nicht mal mehr, was eine vier ist. Immer wieder bettelte der blonde Junge mit den blauen Augen fremde Menschen um Essen an und weil er so zart war, glaubte ihm jeder, dass er nicht genug zu Essen bekam. "Was mache ich nur in der Erziehung falsch?" hat sich Gisela Michalowski oft gefragt. "Warum ärgert dieses Kind mich so?"
###mehr-artikel###Weil er nicht anders konnte. Das weiß sie heute. Torben hat ein "Fetales Alkoholsyndrom" (FAS), eine Hirnschädigung, die durch Alkohol in der Schwangerschaft entsteht. Diese schwerste Form angeborener Alkoholschäden trifft jährlich 2000 bis 4000 Neugeborene, schätzen Mediziner. Dazu werden vermutlich noch mal rund vier- bis fünfmal so viele Kinder geboren, die an einer der Unterformen dieser Behinderung leiden. Sie werden als "Fetale Alkoholspektrum-Störungen" (FASD) zusammengefasst. Angeborene Alkoholschäden kommen weitaus häufiger vor als das Down Syndrom, sind aber längst nicht so bekannt.
Gisela Michalowski: "Jeder Tropfen Alkohol kann schaden"
Beim vollausgeprägten FAS leiden die Kinder unter Organschäden und Wachstumsstörungen, sind geistig beeinträchtigt und zeigen massive Verhaltensauffälligkeiten. Experten können FAS-Kinder meist schon am Gesicht diagnostizieren: am kleinen Kopf, an der schmalen Oberlippe und dem großen Abstand zwischen Mund und Nase. "Den allermeisten Kindern sieht man ihre Hirnschäden aber nicht an. Sie können einen normalen IQ haben und trotzdem größte Probleme mit sich und ihrer Umwelt", sagt Gisela Michalowski.
Die Adoptivmutter von Torben weiß, wovon sie spricht. Neben ihren eigenen vier Kindern zieht die 51-jährige Sozialarbeiterin mit ihrem Mann in der niedersächsischen Kleinstadt Lingen noch drei Pflegekinder groß, die alle alkoholgeschädigt sind. Diese Erfahrung hat Gisela Michalowski dazu gebracht, sich im Selbsthilfeverband FASD-Deutschland zu engagieren. Der Verein berät Betroffene und veranstaltet unter anderem Tagungen, die dafür sorgen sollen, dass die Behinderung in der Gesellschaft bekannter wird – und vermieden. "Jeder Tropfen Alkohol kann schaden", sagt sie. "Wir wissen nicht, ob es eine sichere Grenze beim Alkoholkonsum gibt."
Früherkennung hilft, die Kinder möglichst früh zu fördern
Als Torben mit 19 die Diagnose FAS erhielt, fiel Gisela Michalowski ein Stein vom Herzen. Sie hatte jetzt die Gewissheit, dass seine Probleme organisch bedingt sind und kein Erziehungsfehler. Doch dieses "Glück" ist eher selten. Die nicht sichtbaren Formen der Behinderung werden meist nicht erkannt. Nur für das Vollbild gibt es seit ein paar Monaten medizinische Leitlinien, die es auch Ärzten außerhalb der wenigen FASD-Zentren in Deutschland ermöglichen, eine Diagnose zu stellen. Dabei ist eine möglichst frühe Erkennung der Behinderung extrem wichtig, um die Kinder so fördern zu können, dass ihr Leben nicht völlig aus dem Ruder läuft, meint Gela Becker, die fachliche Leiterin des Evangelischen Kinderheims Sonnenhof in Berlin-Spandau.
###mehr-info###Die diakonische Einrichtung ist als eine der ganz wenigen in Deutschland auf die Betreuung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit angeborenen Alkoholschäden spezialisiert. Ute Hennings Schützlinge in der Wohngruppe "Nemo" sind zwischen acht und 14 Jahre alt. Zwei von ihnen haben FAS. Patrick*(12) ist einer der beiden. "Ihm kann ich nicht sagen, geh hoch, dusch dich, creme dich ein und pack schon einmal deine Schulsachen für morgen", erzählt Ute Henning. "Ich würde ihn damit überfordern." Deshalb gibt sie jede Anweisung einzeln und wartet, bis er sie ausgeführt hat. "Seit sieben Jahren geht er bei uns abends unter die Dusche und kommt doch immer wieder mit dreckigen Füßen heraus, weil er die schlicht vergisst. Man denkt, es geht nicht vorwärts. Aber das tut es doch – nur in wahnsinnig kleinen Schritten."
Alkohol zerstört das Leben der Kinder
Solche Situationen überfordern viele Eltern und Pflegeltern, vor allem diejenigen, die nicht über die Hirnschäden ihre Kinder informiert sind. Viele Pflegeverhältnisse scheitern deshalb, die Kinder kommen von einer Familie zur anderen. Was fatal ist, "denn FASD-Kinder brauchen besonders feste Strukturen", sagt Gela Becker. Richtig schwierig wird es aber für die Kinder, wenn sie volljährig werden. Dann sollen sie plötzlich alleine zurechtkommen und schaffen es nicht. Studien zeigen, dass 80 Prozent der Betroffenen kein selbstständiges Leben führen können. Viele brechen die Schule ab, haben Alkohol- und Drogenprobleme und werden kriminell.
Auch Torben steht immer auf der Kippe. Er ist heute 28 und lebt im ambulant betreuten Wohnen. Er hat die Fachhochschulreife, aber es bisher nicht zu einer geregelten Beschäftigung gebracht. Ein gesetzlicher Betreuer regelt alle wichtigen Dinge für ihn. Zum Beispiel alles, was mit Geld zu tun hat. "Sonst könnte er sich schon am zweiten Tag des Monats nichts mehr zu essen kaufen", sagt seine Adoptivmutter.
* Namen von der Redaktion geändert.