Martin Luther und Edward Snowden
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Martin Luther und Edward Snowden - zwei Helden ihrer Zeit
Ist Snowden der moderne Luther?
Edward Snowden entblößt seit Wochen die geheimen Abhöraktivitäten der USA. Ein Einzelner stellt sich gegen eine Supermacht. Das erinnert an Martin Luther und seinen Kampf mit der katholischen Kirche um die Reformation. Snowden und Luther trennen 500 Jahre, doch verbindet sie Vieles. Antje Vollmer, ehemalige Vizepräsidentin des Bundestages, im Interview.

Martin Luther wurde 1483 geboren, Edward Snowden genau 500 Jahre später. Ihre Leben haben etliche Parallelen.

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Antje Vollmer: Beide strebten anfangs eine Karriere "innerhalb des Systems" an. Luther sah seine Zukunft als Mönch und studierte Theologie, was damals die Königswissenschaft war. Snowden meldete sich 20-jährig als Freiwilliger für den höchst umstrittenen Irak-Krieg, zwei Jahre später heuerte er bei der CIA an. Was bei Luther die theologische Brillanz war, ist bei Snowden seine außergewöhnliche technische Intelligenz. Beide strebten also ins Zentrum der größten öffentlichen Macht ihrer Zeit – und zwar schon in extrem jungen Jahren.

Beide wollten das System dann aber von innen heraus verändern.

Vollmer: Eben weil sie beide das System "durchschauten" und Zugang zu "Insider-Wissen" hatten, wurden sie immer unzufriedener damit und kamen in immer größere innere Konflikte.

"Beide sahen das enorme Potential der neuen Kommunikationsmittel - positiv wie negativ"

Am Anfang stand also der Wunsch, dazu zu gehören …

Vollmer: … dann folgte der Moment des Erschreckens: Luther ging nach Rom und erlebte den zynischen Machtmissbrauch. Die Bischöfe in Rom lebten luxuriös und mit erschreckender Doppelmoral vom Geld der kleinen Leute, die sie viel "Ablass" zahlen ließen für ihre mäßigen Sünden. Dieses Kirchenimperium hatte mit der eigenen Gründungslegende und mit der Bergpredigt nichts mehr zu tun. Und Snowden musste mitbekommen, dass die USA sogar Verbündete und "Freunde" auf dem G20-Gipfel ausspähten.

Zu seinen Motiven sagte Snowden: „Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich tue und sage, aufgezeichnet wird. Solche Bedingungen bin ich weder bereit zu unterstützen, noch will ich unter solchen leben." und dass er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne, dass die US-Regierung die Freiheit weltweit mit ihrem Überwachungsapparat zerstöre. Das erinnert an Luthers "Hier stehe ich, ich kann nicht anders."

Vollmer: Interessant ist: Beide Männer lebten auf dem Höhepunkt einer technologischen Zeitenwende. Bei Luther war es der Buchdruck, bei Snowden das Internet. Beide sahen, welch enormes Potential in den neuen Kommunikationsmitteln liegt. Positiv, um die Freiheit und das Wissen zu fördern, negativ, weil sie zum Machtmissbrauch und zur Kontrolle von Menschen verwendet werden können.

Auch die "Gegenspieler" ähneln sich.

Vollmer: Die USA sind heute die einzig verbliebene Supermacht der Welt, die ununterbrochen Kriege führt oder führen lässt, um fremde Herrscher los zu werden oder um System-Wechsel zu initiieren. Auch die katholische Kirche war zu Luthers Zeiten die größte, alles bestimmende Weltmacht. Kein Krieg ohne ihren Segen! Kaiser mussten sich vom Papst krönen lassen.

"Katholische Kirche, antikes Rom, Commonwealth: Die Welt verträgt auf Dauer keine Mega-Imperien"

Unmut und Rebellion zogen beide auf sich.

Vollmer: Es scheint ein Gesetz der Geschichte zu sein, dass die Welt auf Dauer keine Mega-Imperien verträgt: das antike Rom ging unter, das britische Commonwealth gehört der Vergangenheit an und auch die katholische Kirche ist nicht mehr der größte Grund- und Immobilienbesitzer Europas wie im Mittelalter.

Wird es den USA auch so ergehen?

Vollmer: Nachdem ihr einziger Gegenspieler, die Sowjetunion, 1990 aus der großen Weltpolitik verschwand, hatten die USA die Chance - akzeptiert von den meisten Staaten der Welt - , verantwortungsvoll mit dieser enormen Macht umzugehen. Dann geschahen die Anschläge des 11. September 2001. Damit begründen die USA bis heute ihre alle Dimensionen sprengende, geheime Überwachung und sehen sich damit auch noch im Recht. Da fehlt jedes Maß. Das kann nicht ewig gut gehen. Die Überlebensfähigkeit von großen Reichen beginnt damit, dass sie sich selbst zu begrenzen lernen.

Snowden will die Begründung, mit weniger Freiheit mehr Sicherheit zu schaffen, nicht hinnehmen.

Vollmer: Verhindern konnte er es nicht, er konnte nur die Praktiken öffentlich machen und damit die Regierung Obama zu einer Stellungnahme zwingen: Was ihr tut, müsst ihr vor der Welt verantworten!

"Island sollte Snowdens selbstgewählte 'Wartburg' werden"

Luther suchte Schutz und fand ihn bei den Gegenspielern der Supermacht Kirche, den Landesfürsten.

Vollmer: Es war umgekehrt: Die Regionalfürsten suchten und brauchten ihn, um ihre Bestrebungen, von der römischen Übermacht loszukommen, inhaltlich zu begründen. Schließlich waren sie durch die Revolutionen in Handel, Produktionstechniken und Bankenwesen selbst reich geworden. Außerdem hatte Luther die Bauern hinter sich. Die mussten Abgaben zugleich an die Kirche und an die Fürsten zahlen. Diese Doppellast erdrückte sie schier. Vor allem Sachsens Landesfürst, Friedrich der Weise, stand Luther bei. Er ahnte, was in diesem Mann steckte.

Genau wie Putin mit Snowden heute.

Vollmer: Putin ist sicher nicht so weise wie "Friedrich der Weise", aber sein Motiv mag ähnlich sein: ein vermeintlich schwächerer Gegenspieler erkennt die Symbolkraft und vor allem die Werbewirksamkeit, wenn sich ein Rebell gegen eine Supermacht just in seinen Händen befindet. Auch Friedrich hatte seine Gründe, Luther nicht ausgerechnet an Rom auszuliefern.

"Sie sind keine Märtyrer. Es geht ihnen um ihre starke Botschaft"

Gerät Snowden damit nicht in eine rettungslose Abhängigkeit von einem Diktator?

Vollmer: Es ist beachtenswert, wie vorausschauend ein so junger Mann wie Snowden seinen Coup geplant hat. Er hat seine Dokumente doppelt abgesichert, er hat Vertraute wie den Journalisten Glenn Greenwald vom "Guardian" und die Dokumentarfilmerin Laura Poitras, die sein Werk weiterführen können, wenn ihm was passiert. Diese Rolle hatten bei Luther Philipp Melanchthon und Huldrych Zwingli. Snowden hat sich Hongkong als ersten Fluchtort ausgesucht, weil es kein Auslieferungsabkommen mit den USA hat. Er hat also genau kalkuliert, wo er eine Plattform finden könnte, um den Skandal publik zu machen. Deshalb wollte er ursprünglich auch nach Island: Die einzige westliche Demokratie ohne Auslieferungsabkommen mit den übermächtigen USA. Island sollte Snowdens selbstgewählte "Wartburg" sein.

Aber dann beantragte er mit Russland in einem Land Asyl, das nicht gerade durch seine Pressefreiheit Schlagzeilen macht.

Vollmer: Aber eben dadurch signalisiert er uns, dass er uns noch etwas zu sagen hat. In Russland kann er sich immerhin sicherer fühlen als in Lateinamerika. Meiner Meinung nach eine berechtigte, nüchterne Sorge in Zeiten, in denen die US-Streitkräfte mit Drohnen Menschen auch außerhalb von erklärten Kriegsgebieten angreifen. Zumindest diese Gefahr dürfte in Russland gebannt sein.

Man kann es auch feige nennen, dass Snowden sich nicht einem Prozess in den USA stellt.

Vollmer: Auch Luther ging nicht nach Rom. Er dachte gar nicht daran, sondern suchte die Auseinandersetzung in Augsburg und Worms, also auf deutschem Boden. Weil beide, Snowden und Luther, eben keine Selbstmörder sind und es ihnen nicht um ein spektakuläres Martyrium geht. Sie suchen eine Plattform, um ihr Anliegen vortragen zu können. Es geht ihnen um die Sache, um ihre starke Botschaft! Deshalb sorgten beide auch mit höchster Umsicht dafür, möglichst lange handlungsfähig zu bleiben.

Snowden hatte auch Deutschland um Asyl gebeten – ohne Erfolg.

Vollmer: Es ist beschämend, dass er nicht nach Deutschland darf. Angela Merkel traut sich nicht, sich gegen die USA zu stellen, genauso wenig wie Frankreich. Bei Luther war die Phalanx der Landesfürsten stärker gegen die Supermacht in Rom - hier enden die Parallelen. Es ist eine Schande, dass keine der westlichen Demokratien, nicht einmal Norwegen oder Schweden, eingesprungen sind, um auch Snowden den Schutzraum zu geben, den er für seine berechtigte Auseinandersetzung braucht. Insbesondere Politiker mit einer ostdeutschen Biographie, wie Angela Merkel und Joachim Gauck, müssten doch ein Motiv haben, gegen solchen staatlichen Überwachungsfuror vorzugehen. Aber das interessiert sie null, sie sind ja oben angekommen.

Zurück zu Luther. Er stieß die Reformation an, was in einer Spaltung der Kirche endete. Snowden wird jetzt vorgeworfen, die Sicherheit der USA zu gefährden.

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Vollmer: Das ist kompletter Unsinn! Luther ahnte damals eine Chance für eine umfassende geistige Befreiung und wollte die Kirche im inneren reformieren. Und auch Snowden will einfach, dass die USA wieder ein wirklich freies Land werden. Er kämpft mehr für die "westlichen Werte" als seine Kritiker.

"Snowden gegen USA" erinnert an eine biblische Geschichte: "David gegen Goliath"

Vollmer: In der Tat! Snowden macht Mut. Der Einzelne kann etwas bewegen, er muss es nur intelligent anfangen und sich trauen. Er sollte darauf bauen, dass er irgendwo in der Welt Menschen findet, die begreifen, worum es geht, und seine Sache aufnehmen. Dann kann man sogar einer Supermacht wie den USA zusetzen - und das gewaltfrei! Resignation, Zynismus und Ohnmachtsgefühle, die großen Krankheiten unserer Epoche, gelten nicht mehr.