Foto: Achim Kleuker
Barbara und Georg Schubert haben im Jahr 2007 das "Stadtkloster Segen" gegründet.
Im Kloster: "Zentren, wo Christsein verdichtet gelebt wird"
Wie müsste eine christliche Spiritualität aussehen, die nicht nur in weltferner Abgeschiedenheit funktioniert, sondern mitten im Getümmel der Großstadt? Barbara und Georg Schubert vom "Stadtkloster Segen" in Berlin haben da einige Experimente angestellt. Ein Gespräch über geistliche Gemeinschaften, ungewöhnliche Gottesdienste und Meditation in der S-Bahn.

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Herr und Frau Schubert, haben die Reformatoren sich geirrt, als sie das Leben in Klöstern verurteilten?

Georg Schubert: Ich denke, der Reflex der Reformatoren gegen die monastische Tradition hat der christlichen Praxis eine Seite abgeschnitten, die heute wieder wichtig wird. Geistliche Gemeinschaften können zeigen, dass zum Glauben eine gewisse Verbindlichkeit gehört. Sie bieten ein kleines Gegenmodell zum sehr weit entwickelten Individualismus.

Barbara Schubert-Eugster: Es gibt Dinge, an die sich eine Einzelperson nie trauen würde, die man aber als Gemeinschaft anpacken kann. Ein Zündholz allein macht nur wenig Licht, aber fünf zusammen brennen schon viel heller! Da fließen verschiedene Gaben ein. Und zwar noch mal anders als in einer Kirchengemeinde, die ja die Verbindlichkeit nicht so stark fordert.

Schubert: Wichtig ist: Eine Kommunität ist nichts Elitäres, nichts Besseres, sondern einfach eine andere Berufung.

In Kooperation mit der Berliner Kirchengemeinde Prenzlauer Berg Nord haben Sie und vier andere Mitglieder Ihrer Kommunität 2007 das "Stadtkloster Segen" gegründet. Was ist Ihr Ziel mit diesem Projekt?

Schubert: Wir hoffen, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen zu sich, zur Ruhe und zu Gott kommen können.

Schubert-Eugster: Und dann auch wieder zueinander! Ich denke, das hängt alles ganz stark zusammen.

"Wir wollen Formen von Spiritualität entdecken, die gerade in der Stadt funktionieren"

Wie verstehen Sie dieses "zueinander kommen"?

Schubert-Eugster: Bischof Ralf Meister hat mal gesagt: Wenn die Großstädter ihre Wohnung verlassen, steigen die meisten in eine Art Glasglocke, reisen darin durch die Stadt und an ihrem Ziel steigen sie wieder aus. Es ist sicher eine Überlebensstrategie, bei so vielen Eindrücken, die in einer Großstadt auf einen einstürmen, zu sagen: "Das geht mich alles gar nichts an!" Man kann aber auch für sich sortieren, wo man wirklich gefragt ist. Wenn ich nicht mehr nur anonym unterwegs bin, kann ich merken, wie sich leise Fäden knüpfen zwischen einander sonst fremden Menschen. Das wirkt sich dann auch auf meine Lebensqualität aus.

Schubert: Einmal haben wir die Leute eingeladen, eine Runde mit der Ring-S-Bahn zu fahren in einer ähnlichen Haltung wie man in einer Kapelle meditiert: Also wach sein und wertfrei die anderen Mitreisenden wahrnehmen. Das ist eine Form von Meditation, die man auf dem Land nicht üben kann. Wir wollen Formen von Spiritualität entdecken, die gerade in der Stadt funktionieren! Denn viele Leute sagen: "Auf dem Land finde ich Stille. Und dann komme ich in die Stadt zurück und alles schlägt wieder über mir zusammen."

Schubert-Eugster: Auch in der Großstadt brauche ich eine Notration. Dann kann ich mich fragen: Steige ich, wenn ich U-Bahn fahre, wieder in diese Glasglocke? Oder tue ich das nur manchmal, wenn es unbedingt sein muss? Und ansonsten sitze ich wach da, nehme die anderen wahr. Vielleicht ergibt sich ein Gespräch. Die Berliner sind ja teilweise sehr offen.

Schubert: Solche unverhofften Begegnungen gibt es auch hier bei uns im Stadtkloster. Normalerweise begegnen sich die Menschen ja in ganz festen und relativ kleinen Gruppen. Aber in der Kirche gibt es eine Durchmischung von Milieus, die sonst kaum mehr stattfindet.

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Woran denken Sie da zum Beispiel?

Schubert: Für mich wurde das deutlich im ersten Glaubenskurs, den wir hier veranstaltet haben: Da saß ein Marketing-Dozent aus Frankreich neben einer Frau aus dem Obdachlosenheim, die in einen Einkaufswagen alles dabei hatte, was sie besaß. Diese beiden leben sonst in völlig verschiedenen Welten, aber hier haben sie miteinander neun Abende lang mal dieselben biblischen Texte diskutiert. Sie haben dabei kaum miteinander gesprochen, aber einander wahrgenommen und gemerkt: "Dieses seltsame Wesen gibt es auch noch in dieser Stadt!"

Manchmal gibt es sie also noch, die evangelische Volkskirche!

Schubert-Eugster: Ja, aber sie steht heute in der Gefahr der Beliebigkeit, der Formlosigkeit – zumindest in der Schweiz, vielleicht auch hier in Deutschland. Ich finde es gut, wenn man klar sieht, wofür die Kirche steht. Dann können die Leute auch sagen: "Ja, davon übernehme ich einen Teil". Oder auch nicht.

"Wir leben in einer Zeit, in der Worte unglaubwürdig geworden sind"

Manche Theologen sagen, der Gottesdienst brauche eine möglichst niederschwellige Gegenwartssprache. Ich bin mir da nicht so sicher: Sollten wir nicht, um erkennbar zu bleiben, eher eine ganz andere, manchmal auch befremdende Sprache pflegen? Oder ist beides richtig?

Schubert-Eugster: Sie haben es ja gerade bei unserem Mittagsgebet in der Segenskirche erlebt: Die gregorianischen Psalmen, die wir singen, sind so etwas Fremdes.

Schubert: Ich glaube, da müssen wir zwei Ebenen unterscheiden. Die eine ist: Wo wir verkündigen und die Bibel auslegen, sollte die Sprache so sein, dass heutige Menschen es verstehen. Auch beim besten Willen versteht heute niemand mehr theologische Fachbegriffe wie "Rechtfertigung aus dem Glauben". Aber bei der Liturgie ist es anders: In den Psalmen und Gebeten sollen durchaus Bilder vorkommen, die größer sind als das, was wir verstehen.

Schubert-Eugster: Unsere Erfahrung ist: Die Leute kommen gerade deshalb ins Stadtkloster, weil sie hier etwas anderes hören wollen als sonst überall. Einfache Sprache kann auch banalisierend sein.

Schubert: "Der Herr ist mein Hirte" (Psalm 23) sollte man nicht ersetzen durch "Der Herr ist mein Automechaniker", nur weil das den Leuten heute näher ist. Genauso das Glaubensbekenntnis oder das Vaterunser. Denn damit lebt man Jahrzehnte und allmählich begreift man das oder jenes davon besser.

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Vor welcher Herausforderung steht die Kirche heute?

Schubert: Wir leben in einer Zeit, in der Worte unglaubwürdig geworden sind – durch Werbung, Medienrauschen, Politikerphrasen. Das bringt unsere Kirche, die eine "Kirche des Wortes" ist, in große Schwierigkeiten. Deshalb glaube ich, dass wir als Kirche Orte schaffen müssen, wo das wieder möglich ist, was Jesus den ersten Jüngern sagte: "Kommt und seht!" Nämlich wie man als Christ mitten in der Stadt sein Leben bewältigen und gestalten kann.

Schubert-Eugster: Und zwar glaubwürdig. Denn die großen Visionen, mit denen man beginnt, brechen sich von allein herunter. Sie werden von der Realität auf die Probe gestellt und entwickeln sich weiter. So wird uns das auch zurückgemeldet. Die Leute sagen: Das Stadtkloster ist ein Ort, an dem man so sein darf, wie man ist.

Schubert: Wir müssen Kristallationskerne bilden – Zentren, wo Christsein verdichtet gelebt wird. Und ich träume davon, dass das Stadtkloster so ein Ort wird, wo man hingehen, schauen und Fragen stellen kann – ohne gleich mit tausend Antworten beschallt zu werden. 

Was unterscheidet die Abendbesinnungen, die Sie jeden Sonntag 21 Uhr im Stadtkloster anbieten, von klassischen Gottesdiensten?

Schubert: In dieser Gottesdienstform fragen wir oft nur: "Warum lesen wir diesen biblischen Text heute noch?" Und dann erzählt ein Mitmensch, was ihm oder ihr dieser Text bedeutet. Mal ist das ein Immobilienmakler, mal eine Stewardess, mal eine Lehrerin. Und darüber kommen die Mitfeiernden dann ins Gespräch. Die Leute haben auch einige Minuten Stille, um zu überlegen, wie ihnen dieser Text begegnet. Dahinter steht die Hoffnung, dass Gott diese offenen Momente im Gottesdienst nutzt und zu den Leuten spricht. Für mich gehört zur Zukunft der Kirche, dass man in den Gottesdiensten für so etwas wieder Räume öffnet. Wenn sie durchgetaktet bleiben – wo soll da Zeit sein zum Nachdenken? Oder falls Gott redet – wann findet er die Momente, in denen wir hören?