Paul Cromwell, seit fast zehn Jahren arbeiten Sie in Deutschland und haben immer wieder auch mit evangelischen Gemeinden zu tun. Wie erleben Sie die deutsche Kirche?
Paul Cromwell: Ich denke, die deutsche "Volkskirche" ist ein sehr interessantes Kirchenmodell. Sie ist bei den Leuten präsent und erreichbar an den heiklen Wendepunkten des Lebens: Taufe, Konfirmation, Hochzeit, Beerdigungen – und das auf gehaltvolle und hilfreiche Weise. Außerdem mag ich die deutsche Reformationstradition – ihre Musik, ihre Liturgietraditionen sind beeindruckend! Und dann eure Kirchentage!
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Zugleich stehen die deutschen Protestanten vor großen Herausforderungen. Welche sehen Sie aus US-amerikanischer Perspektive?
Cromwell: Ich denke, eine der größten Herausforderungen für euch ist: die Mitglieder aktivieren und einen starken Gemeinschaftssinn entwickeln! Ein kleines Beispiel: In deutschen Gottesdiensten beten die Leute zusammen und verschwinden dann sofort nach Hause. In den meisten unserer US-Gemeinden bleiben die Leute nach dem Gottesdienst noch zusammen, trinken Kaffee miteinander und lernen sich näher kennen. So entsteht die Mentalität "Wir unterstützen uns gegenseitig!"
Wie erleben Sie die aktuellen Strukturreformen unserer Kirche?
Cromwell: Das ist die andere zentrale Herausforderung, die ich sehe: Angesichts der finanziellen Kürzungen, die nötig geworden sind, erlebe ich eine deutsche Kirche, die eher reagiert anstatt proaktiv tätig zu werden. Diese Umstrukturierungen sind wichtig, aber sie können sehr, sehr viel Zeit absorbieren. Der erwähnte Aufbau der Gemeinschaft bräuchte eigentlich auch viel Zeit und Aufmerksamkeit!
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Und ein Drittes hängt damit zusammen: In eurem "Volkskirchen"-Modell wird von den Pfarrern vor allem erwartet, dass sie für breite Teile der Bevölkerung Dienstleistungen anbieten – zum Beispiel wenn jemand gestorben ist. Eure Kirche ist zu einem Service-Center geworden. Die Pfarrer müssen für diese Services so viel Zeit aufwenden, dass ihnen die Zeit fehlt, neue aktive Mitglieder aufzufinden und Strukturen zu schaffen, wie man solche Leute engagiert.
Wie könnte das künftig besser gelingen?
Cromwell: Ich habe dafür keine einfache Lösung, aber ich habe ein paar Ideen, wie eine Gemeinschaft aufgebaut werden kann. Dazu gehört letztlich auch eine bessere Ausbildung der Führungskräfte: Bisher wird den künftigen Pfarrern – in Deutschland, aber auch in den USA – viel beigebracht über Predigt, Bibel und Kirchengeschichte, aber zu wenig darüber, wie man Gemeinschaft fördert und eine effektive Organisation aufbaut. Hier könnten der Kirche Elemente aus dem "Community Organizing" helfen. Denn es gibt da einige Methoden, wie man mehr Menschen fürs aktive Gemeindeleben gewinnen und den Gemeinsinn stärken kann.
"Beziehungen aufbauen innerhalb, aber auch außerhalb der Gemeinde"
Worum geht es bei "Community Organizing"?
Cromwell: Es geht darum, einen Stadtteil zu verändern oder auch eine bestimmte Gruppe, zum Beispiel eine Kirchengemeinde. Anders als bei klassischer Sozialarbeit lautet das Motto von Community Organizing: "Tu niemals für die Leute, was sie selbst für sich tun können!" Dem entsprechend hat Robert Linthicum, ein amerikanischer Pfarrer und Organizer, drei Modelle von Kirche unterschieden: Erstens die Kirche "in" einer Nachbarschaft – aber ohne wirkliche Verbindung zum Leben der Leute im Stadtteil. Zweitens die Kirche "für" die Nachbarschaft – also eine Gemeinde, die ein Vision für den Stadtteil hat, die sieht, was vor Ort gebraucht wird und Dienste anbietet. Das ist auch das Modell der Diakonie und Caritas bei euch in Deutschland. Und schließlich Linthicums drittes Modell: die Kirche "mit" der Nachbarschaft.
Was ist damit gemeint?
Cromwell: Kirche "mit" der Nachbarschaft bedeutet, dass die Gemeinde – bevor sie sagt, was die Leute brauchen – ihnen zuhört und Beziehungen aufbaut. Innerhalb, aber auch außerhalb der Gemeinde. Und dass man dann gemeinsam Strategien entwickelt, wie man den Problemen und Bedürfnissen vor Ort begegnen kann. Dieses dritte Modell entspricht dem Ansatz von Community Organizing.
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Angenommen, die Mitarbeiter einer Kirchengemeinde entschließen sich, so einen Prozess zu starten: Wie sehen die ersten Schritte aus?
Cromwell: Beim Community Organizing ist die wichtigste Aufgabe des Organizers, permanent Kontakte zu neuen Leuten aufzubauen. Er führt pro Woche mindestens fünf "Face-to-Face"-Gespräche von einer halben bis einer Stunde Dauer. In der Anfangsphase einer Bürgerplattform können es wöchentlich sogar 20 bis 30 Gespräche sein. Ich weiß natürlich, dass Pfarrer überlastet sind und so etwas nicht leisten können. Aber es sollte ihnen möglich sein, wöchentlich einen Besuch zu machen bei neuen Leuten, denen sie Engagement zutrauen. Das wären dann pro Jahr 50 Leute, bei drei Besuchenden sogar 150 Leute! Diese werden dann zu einer gemeinsamen Versammlung eingeladen, bei der die Visionen gebündelt werden. Da werden natürlich nicht alle Besuchten kommen. Aber wenn auch nur 20 bis 30 Prozent dieser Leute aktiv werden, dann ist das schon eine signifikante neue Kerngruppe!
"Das ist der Weg, inmitten finanzieller Kürzungen die Gemeinden wieder zu stärken"
Was ist der Zweck dieser Besuche?
Cromwell: Da geht es um drei Sachen. Der erste Zweck ist: Herausfinden, welches Eigeninteresse diese Person antreibt. Mit Eigeninteresse meine ich nicht Egoismus, sondern: Woran ist diese Person interessiert? Was sind ihre Sorgen und Herausforderungen im Alltag? Was sind ihre Bedürfnisse und Visionen? Das zweite Ziel ist, eine Beziehung zu dieser Person aufzubauen – voller Vertrauen und gegenseitigem Respekt. Und der dritte Zweck eines solchen Besuchs ist es, die Begabungen, Talente und Kenntnisse zu entdecken, die diese Person einbringen könnte.
Die generelle Frage ist ja, wie Leute einbezogen werden können – sei es in eine Kirchengemeinde oder in eine Bürgerplattform. Normalerweise lassen sich Leute involvieren, wenn sie (a) ein direktes Eigeninteresse haben oder (b) wenn jemand sie einlädt, zu dem sie eine Beziehung haben.
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Wenn eine Kirchengemeinde solch einen breit angelegten Zuhör-Prozess startet: Welche Wirkung kann das entfalten?
Cromwell: Wenn die Haupt- und Ehrenamtlichen sich Zeit nehmen für solche Besuche, wenn sie sie zu einer Priorität des Gemeindelebens erheben, wenn sie andere trainieren, dasselbe zu tun, dann beginnt ein Schneeball-Effekt! Das ist der Weg, inmitten finanzieller Kürzungen die Gemeinden wieder zu stärken und eine aktive, lebendige Gemeinschaft aufzubauen. Ich denke, in unserer modernen Welt sehnen sich die Leute wirklich nach Gemeinschaft! Eigentlich wollen sie sich mit anderen Leuten verbunden fühlen. Die Kirche kann ihnen dabei ungleich besser helfen als all die anderen Vereine, weil sie tiefere Wurzeln hat.
Dieser "Face-to-Face"-Prozess hat also auch eine spirituelle Dimension?
Cromwell: Unbedingt! Denn aus meiner Sicht besteht Spiritualität nicht nur im individuellen Gebetsleben. Ich denke, wir können Gott gerade auch in den Begegnungen mit anderen Menschen erfahren. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat einmal gesagt, dass Gott in unseren Beziehungen zu finden ist. Das heißt, wenn du und ich gut miteinander umgehen, dann kommt Gott und füllt den Raum zwischen uns aus, so dass wir miteinander verbunden sind.