Herz in Händen
Foto: Getty Images/iStockphoto/Artem Furman
Ehrenamt: "Kultur des Helfens" oder Ausbeutung?
Kritisches zur Forderung nach mehr bürgerschaftlichem Engagement
In Deutschland engagieren sich rund 23 Millionen Menschen ehrenamtlich. Ihre unbezahlte Arbeit sollte nicht Lücken in einer verfahlten Sozialpolitik füllen, meint die Autorin und Journalistin Claudia Pinl.

Ehrenamtliche arbeiten in Kleiderkammern, in Kitas und in Schulen. Sie betreuen Alte, sie sitzen an den Kassen von Theatern und Schwimmbädern, pflegen kommunales Grün, und steuern den "Bürgerbus". Alles unbezahlt, alles fürs Gemeinwohl. 23 Millionen Menschen, rund ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland, sind auf diese Weise engagiert. Verbände wie Diakonie oder Caritas setzten schon immer auf Ehrenamtlichkeit aus christlicher Tradition.

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Während aber Bindungen an Traditionen schwächer werden, hat sich der Druck auf die Wohlfahrtsverbände intensiviert. Sie müssen sich schon deshalb auf Ehrenamtliche stützen, weil der Staat sie gezwungen hat, mit privatwirtschaftlich organisierten Dienstleistern zu konkurrieren, die ihr Personal noch schlechter bezahlen als es in den Sozialberufen ohnehin üblich ist. Der Bildungssektor ist in Deutschland schon lange unterfinanziert. Und die Kommunen sind finanziell ausgetrocknet und sparen an freiwilligen Leistungen wie Schwimmbädern und Büchereien.

Daher stimmen alle in den Ruf  nach noch mehr Engagement und Freiwilligenarbeit ein. "Wer sich freiwillig für andere Menschen einsetzt, verdient unseren Respekt und unsere Anerkennung", sagt Bundesfamilienministerin Kristina Schröder. Und nicht nur sie. Demnächst ist es wieder so weit. Anläßlich der "Woche des bürgerschaftlichen Engagements" finden im September bundesweit Tagungen und öffentliche Veranstaltungen statt, werden Ehrenamtspreise verliehen und die Bevölkerung wird zu noch mehr Gratisarbeit  aufgerufen. Denn anscheinend sind 23 Millionen ehrenamtlich Tätige nicht genug.

Mit der Aktivierung der Ressource Engagement ist inzwischen eine ganze Industrie beschäftigt: Kommunikationsagenturen und Projektebüros, Freiwilligenbörsen und Initiativen, Organisationsberatungen und Weiterbildungseinrichtungen, Koordinierungsstellen und Stiftungen, Internetportale und Universitäten, Forschungseinrichtungen und Netzwerke, Fundraising-Agenturen und Verbände, last not least: Landes- und Bundesministerien, Stadt- und Kreisverwaltungen.

Ein Schlag ins Gesicht für Krankenschwestern und Altenpfleger

Unterschiedlich sind die Begründungen, weshalb es noch mehr "Bürgersinn" brauche. Manche Vertreter einer "Kultur des Helfens" wie Sabine Ulonska vom Generalsekretariat des Malteser Hilfsdienstes betonen die angeblich ganz besondere menschliche Qualität der freiwilligen Hilfe, die so von Professionellen nicht geleistet werden könne - ein Schlag ins Gesicht für Krankenschwestern und Altenpfleger, für Erzieherinnen und Sozialpädagogen, die ja auch einmal ihre Berufe gewählt haben, um Menschen zu helfen. Und die dafür Gehälter erwarten. 

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Der Publizist Richard David Precht fordert seine Leser auf, Schulkindern in Problemvierteln kostenlos Nachhilfe zu erteilen, weil sonst auch bei uns demnächst die Vorstädte in Flammen stünden. Nicht alle gehen so weit, Horrorszenarien  zu entwerfen, um Freiwillige zu mobilisieren. Professoren, die die "Zivilgesellschaft" und die "Bürgerkommune" erforschen, sehen in der Gratisarbeit eine Form demokratischer Teilhabe. Größere Chancen, unser aller Kreativität einzubringen, mehr Einfluss auf kommunalpolitische Entscheidungen, mehr Partizipation – alle diese wunderbaren Folgen soll es angeblich haben, wenn wir als Bürgerinnen und Bürger bei der Kinderbetreuung in der Kita aushelfen oder Büchereien und Schwimmbäder selber betreiben, weil die überschuldeten Städte das nicht mehr leisten können.

Aus der Not – der finanziellen Austrocknung von Wohlfahrtsstaat, Bildungssektor und Kommunen – wurde eine demokratische Tugend. Im engagementpolitischen Neusprech heißt das dann: "Die Bürgerin bzw. der Bürger wird nicht mehr nur als Leistungsempfänger und Konsument, sondern als aktiver, eigensinniger und selbstbestimmter Koproduzent im System des gesellschaftlichen Bedarfsausgleichs betrachtet" (Zitat aus dem "Ersten Engagementbericht der Bundesregierung" 2012).

Die Kassen sind leer, also müssen alle mit anpacken

Vielfältig sind also die Begründungen, mit denen ein Noch Mehr an ehrenamtlicher Arbeit eingefordert wird. Einig sind sich die Befürworter der "Bürgergesellschaft" aber in einem: Die öffentlichen Kassen sind leer, der Staat kann nicht alles leisten, also müssen wir alle anpacken. Selten werden dagegen die Gründe genannt, weshalb Kommunen klamm sind, die Löcher im sozialen Netz größer werden und der Bildungssektor unterfinanziert ist. Zum Beispiel die Steuergesetzgebung: Sie hat dazu geführt, dass Reiche immer reicher wurden, während der Staat verarmte;  große Teile der Infrastruktur einschließlich Soziales und Bildungssektor wurden vernachlässigt. Zum Beispiel die Politik der Privatisierung und Deregulierung des Arbeitsmarkts: Leistungsdruck, Minijobs und Löhne unterhalb des Existenzminimums haben die Anzahl Bedürftiger hochschnellen lassen, haben dazu geführt, dass Geringqualifizierte oder Ältere erst gar keine Erwerbsarbeit mehr finden.

Verantwortung zu übernehmen, nicht nur für die eigene Person oder Familie, sondern auch für das Umfeld, in dem man lebt, schafft Zufriedenheit. Anderen zu helfen macht froh und bereichert. Aber die Ressource Engagement ist in Gefahr, wenn sie als Lückenbüßerin für eine verfehlte Politik missbraucht wird. Die Woche des bürgerschaftlichen Engagements fällt dieses Jahr in die Hochzeit des Bundestagswahlkampfs. Eigentlich eine gute Gelegenheit, einmal nicht die Werbetrommel für noch mehr Ehrenamtlichkeit zu rühren, sondern zu fragen, welche Politik es braucht, damit möglichst alle Kinder einen Schulabschluß erreichen, Kommunen ihre Museen, Schwimmbäder und Kultureinrichtungen finanzieren können, die menschenwürdige Pflege von Kranken und Alten gewährleistet wird und auch weniger qualifizierte Erwerbstätige von ihrer Arbeit leben können. Für ehrenamtliches Engagement ist dann immer noch Platz.