Wer ein Stück Syrien mitten in Europa besuchen möchte, muss sich nach Arth am innerschweizerischen Zugersee begeben. Dort befindet sich seit 1996 das Kloster St. Avgin der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochia, das zugleich Bischofssitz ist. Drei Mönche und zwei Nonnen leben hier. Jedes Jahr kommen Kinder aus ganz Europa, um im Kloster Aramäisch zu lernen, die heilige Sprache ihrer Tradition.
Der Erzbischof begrüßt seine Besucher in einem riesigen Empfangszimmer. Mor Dionysios Isa wurde in der Türkei geboren und ist heute Oberhirte von etwa 10.000 syrisch-orthodoxen Gläubigen in der Schweiz und 4000 in Österreich. Zum Interview werden Tee und arabisches Gebäck gereicht. Die Polsterstühle stammen direkt aus Damaskus, die kunstvoll geschnitzten Wandschirme aus Indien. Von den Wänden blicken ernst die Patriarchen der Kirche. Krieg und Chaos scheinen angesichts der landschaftlichen Idylle und der orientalischen Gastfreundschaft ganz fern – und sind doch nur einen Telefonanruf weit weg.
Exzellenz, der syrisch-orthodoxe Erzbischof von Aleppo und sein griechisch-orthodoxer Amtsbruder befinden sich in der Gewalt von Entführern. Gibt es irgendeinen Kontakt zu den beiden?
Mor Dionysios Isa: Nein. Es heißt lediglich, dass sie am Leben sein sollen. Ansonsten gibt es keine Neuigkeiten, nur Lügengeschichten, die verbreitet werden.
War dies das erste Mal, dass Ihre Kirche oder deren Vertreter in Syrien direkt angegriffen wurden?
Mor Dionysios Isa: Keineswegs. Es wurden schon viele Priester gekidnappt und ein, zwei auch getötet. Manche sitzen im Gefängnis. Außerdem wurden eine Kirche in Deir ez-Zor und die Kathedrale von Homs zerstört, eine der ältesten Kirchen der Welt. Andere Sakralbauten wurden entweiht oder beschädigt.
Was denken Sie, wer steckt hinter diesen Attentaten?
Mor Dionysios Isa: Wir wissen es nicht. Es gibt mittlerweile so viele Parteien, die gegeneinander kämpfen, sowohl bei den Rebellen als auch in den Reihen der Regierung. Jeder macht, was er will.
"Uns droht dieselbe Situation wie im Irak"
Besteht überhaupt noch so etwas wie ein kirchliches Leben in Syrien?
Mor Dionysios Isa: Es ist sehr gefährlich geworden, eine Kirche zu besuchen. Kürzlich wollten unsere Leute in Aleppo ein Gebet abhalten und haben sogar Flugblätter mit Einladungen verteilt. Doch dann explodierte am Morgen vor der Veranstaltung eine Bombe vor der Kirche. Am Ende ist niemand gekommen. Die meisten christlichen Schulen, die früher auch von muslimischen Kindern besucht wurden, sind geschlossen. Unser Priesterseminar bei Damaskus arbeitet allerdings noch.
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Der armenische Patriarch sagte kürzlich über seine große syrische Gemeinde: "Unser Ende ist nur eine Frage der Zeit."
Mor Dionysios Isa: Ja. Uns droht dieselbe Situation wie im Irak. Dort gab es vor zwanzig Jahren zwei Millionen Christen. Heute sind es noch 500.000. Alle anderen sind geflohen.
Haben Sie Zahlen, wie viele syrische Christen auf der Flucht sind?
Mor Dionysios Isa: Die Lage ist sehr unübersichtlich. Bestimmt sind es Hunderttausende. Die meisten halten sich in den Nachbarländern auf. Einige Tausend haben in der Osttürkei Zuflucht gefunden, auch in unseren dortigen Klöstern. Fünfhundert haben es bis nach Griechenland geschafft. Außerdem gibt es große landesinterne Flüchtlingsströme von Christen in die Kurdengebiete und nach Damaskus, weil dort die Lage noch sicherer ist.
Sind auch Flüchtlinge hierhergekommen?
Mor Dionysios Isa: Vielleicht ein, zwei Familien kamen in die Schweiz, nach dem, was ich gehört habe. In Österreich sind es etwa zehn. Die Grenzen sind geschlossen. Es gibt keine Visa.
Können Sie Ihren Glaubensbrüdern von hier aus irgendwie helfen?
Mor Dionysios Isa: Manchmal machen wir eine Kollekte im Gottesdienst und senden etwas Essen und Kleider. Wir versuchen unser Bestes. Doch wir sind eine kleine Gemeinde. Nun gibt es allerdings Pläne von Exilgruppen, in der Osttürkei ein Camp für 10.000 Flüchtlinge zu errichten.
Wo stehen die Christen politisch in dem Konflikt zwischen dem Regime Assad und den Rebellen?
Mor Dionysios Isa: Ich denke, sie unterstützen mehrheitlich die Regierung. Aber auch Millionen sunnitischer Muslime tun dies.
"Bisher hat die Europäische Union nur die Opposition unterstützt. Niemand hilft uns"
Wird dies Ihren Glaubensbrüdern nun zum Verhängnis?
Mor Dionysios Isa: Das mag einer der Gründe für die Gewalt sein. Doch der wichtigere Grund ist die Feindseligkeit gegenüber Christen allgemein. Es ist dasselbe wie in Ägypten.
Gab es solche Konflikte zwischen den Religionsgemeinschaften schon früher?
Mor Dionysios Isa: Ich habe acht Jahre in Damaskus gelebt, wo ich unser Priesterseminar leitete. Es war ein wundervolles Leben. Wir konnten unseren Glauben frei ausüben, Kirchen bauen, unsere Religion unterrichten. Nach dem, was ich gesehen habe, war es besser als überall sonst im Nahen Osten, was die Freiheit betraf. Der Umgang mit den Muslimen war brüderlich. Doch seit zwei Jahren hat sich alles geändert. Die Gründe dafür sind allein politischer Natur.
Der neue Präsident des oppositionellen Nationalrates Georges Sabra ist griechisch-orthodoxer Christ. Wie sehen Sie seine Rolle?
Mor Dionysios Isa: Sein Einfluss scheint gering zu sein. Er hat bisher jedenfalls nichts für uns getan. Wir vermuten, dass er nur gewählt wurde, um bei der Europäischen Union und den USA einen guten Eindruck zu erwecken.
Was erwarten Sie denn vom Westen?
Mor Dionysios Isa: Wir wünschen uns vor allem politische Unterstützung, sodass unsere Leute in ihrer Heimat bleiben und in Sicherheit leben können. Es braucht Druck, auch auf die Opposition, damit alle Religionsgemeinschaften geschützt werden. Bisher hat die Europäische Union nur die Opposition unterstützt. Niemand hilft uns. Wir erwarten von den Christen, dass sie ihren Brüdern und Schwestern in Syrien helfen.
Dieses Interview mit Mor Isa ist bereits in der Züricher Zeitung "Reformierte Presse" erschienen.