Foto: dpa/Patrick Pleul
"Immer die besten Leute zu den kleinsten Kindern"
Am 1. August 2013 betreten viele evangelische Kindertagesstätten Neuland: Sie nehmen zum ersten Mal unter dreijährige Kinder auf. Denn ab nächstem Monat haben Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr Anspruch auf Förderung in einer Kindertagesstätte. Für die Einrichtungen bedeutet das: Sie müssen anbauen und neue Erzieherinnen finden. Und zwar schnell.

Die evangelische Kita Apfelsinenkiste in Berlin-Neukölln musste eine Wand zum Gemeindehaus durchbrechen. Im August kommen 33 neue Kleinkinder, dann werden insgesamt 93 Kinder in der Kita betreut – der Platz reicht einfach nicht mehr. Deshalb hat die evangelische Kirchengemeinde Gropiusstadt Süd Räume ihres Gemeindezentrums an die Kita abgetreten und ihre eigene Gruppenarbeit so umorganisiert, dass es passt. Auch das Außengelände des Gemeindehauses dürfen die Kinder komplett in Beschlag nehmen. "Die Gemeinde ist der Kita sehr zugewandt und unterstützend", freut sich Kita-Leiterin Beate Dubois.

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In der evangelischen Martini-Kirchengemeinde in Siegen werden ebenfalls demnächst Kinder das Gemeindezentrum Damaschkestraße erobern: Der Gottesdienstraum wird zum Mehrzweckraum. Außerdem baut die Kirchengemeinde zwei Schlafräume und einen großen Gruppenraum an, damit alle Kinder Platz haben. Weil der Umbau noch in vollem Gange ist, nimmt die Kita ab dem 1. August zunächst nur sechs zweijährige Kinder neu auf.

Das Familienzentrum Evangelischer Kindergarten Kunterbunt in Dümpten im Ruhrgebiet hat sich für die vielen neuen U-3-Kinder stark vergrößert: Bisher hatte jede Gruppe zwei Räume, jetzt sind es jeweils vier: je ein Gruppenraum, ein Nebenraum, ein Schlafraum und ein Wickelraum. Außerdem gibt es einen großen Bewegungsraum zum Toben und Spielen. Der Umbau ist bereits abgeschlossen, und die Kita bereitet sich auf einen großen Ansturm vor: Vorübergehend werden ab August 79 Kinder da sein, pro Jahr nimmt die Kita zwölf unter Dreijährige auf.

"Was der Markt bietet ist – mit Verlaub – gruselig"

Für mehr Kinder brauchen die Tagesstätten auch mehr Personal. Anke Werdes muss für die Kita der Martinigemeinde in Siegen eine weitere Fachkraft einstellen - die Suche ist gar nicht so einfach. "Es gibt einfach viel zu wenige Erzieherinnen, jedenfalls wenn man gute haben möchte", seufzt Anke Werdes. Noch deutlicher wird Elisabeth Gajkowski, Leiterin des evangelischen Kindergartens Vicelin in Hamburg: "Was der Markt bietet ist – mit Verlaub – gruselig!" Qualifizierte Kräfte fehlten, die Bewerberinnen seien nicht belastbar genug und kaum bereit, Verantwortung zu übernehmen.

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Gajkowski findet es "beschämend", dass zum Beispiel ehemalige Schlecker-Mitarbeiterinnen kurzerhand zu Erzieherinnen umgeschult werden sollten. Solche Ideen würden den Anforderungen des Berufes nicht gerecht. "Es ist nach wie vor ein Beruf, in dem man nicht viel verdient. Dem Staat sind Kinder offenbar nichts wert“, findet die Kindergartenleiterin, die froh ist, selbst mit einem altbewährten Team arbeiten zu können. Wer neue Kräfte braucht, sollte rechtzeitig mit der Suche anfangen, so wie die Leiterin des evangelischen Claudius-Kindergartens in Münster, Kathi Franko, die von 9 auch 15 Fachkräfte aufstocken musste. "Wir haben früh angefangen mit der Suche und unser komplettes Wunschpersonal bekommen", sagt sie zufrieden.

Gerne übernehmen die Kitas Fachkräfte mit Erfahrung in der Betreuung von unter dreijährigen Kindern. Wer diese Erfahrung nicht mitbringt, muss sich fortbilden. Denn für die Kleinkinder brauche man eine "ganz eigene Padägogik, die in den Berufsschulen noch viel zu wenig in Betracht gezogen wird", sagt Kathi Franko aus Münster. Die meisten Erziehrinnen, die ab dem 1. August unter dreijährige Kinder betreuen, haben deshalb Fortbildungen besucht, so auch in der Kita der Siegener Martinigemeinde. Die Lerninhalte waren unter anderem: Wissen über die Entwicklung von unter dreijährigen Kindern in Sprache und Motorik, Förderung beim Krabbeln und Laufen sowie Raumgestaltung extra für die neue "Nestgruppe". Doch die wichtigste Fähigkeit lässt sich wohl kaum in einem Unterrichtsraum erlernen: "Die Kinder können sich sprachlich noch nicht ausdrücken, deshalb brauchen sie Empathie", sagt Beate Dubois, Leiterin der Berliner Apfelsinenkiste. Ihr Grundsatz für die Personalaufteilung lautet: "Immer die besten Leute zu den kleinsten Kindern schicken."

Den Alltag in den Griff kriegen

Wie das alles klappen wird mit den neuen Wickel- und Krabbelkindern ab August, das müssen viele evangelische Kitas trotz aller Fortbildung und Vorbereitung einfach ausprobieren. Beate Dubois in Berlin plant, je sechs Kleinkinder von einer Erzieherin betreuen zu lassen – doch wenn die ausfällt, wird es wohl schwierig, eine Vertretung zu finden. Auch Tanja Haberkamp in Dümpten sieht es so kommen: "Wenn einer krank ist, müssen wir immer ein bisschen jonglieren." Doch nicht nur Personalausfälle, sondern auch den ganz normalen Alltag mit den ganz Kleinen müssen die Kitas in den Griff kriegen. "Die ziehen einfach Zeit raus, allein schon fürs Wickeln", sagt Tanja Haberkamp. Die Zeit fehle dann woanders. "Es gibt Kinder, die sich schwer tun, die sich schlecht von ihren Eltern lösen, zu denen müssen wir Kontakt aufbauen. Je jünger die Kinder sind, desto mehr brauchen sie dieses Behütete.“

Von den evangelischen Kindertagesstätten wird weit mehr verlangt als nur die Betreuung der Kinder. Frühkindliche Bildung, Unterstützung bei der Entwicklung der Persönlichkeit, das Einüben religiöser Rituale gerade in evangelischen Einrichtungen, dazu Beratung der Familien, Inklusion behinderter Kinder… All das soll geleistet werden, ab August dann mit zusätzlichen unter dreijährigen Kindern, zum Teil in Kitas, die noch Baustellen sind und mit zu wenig erstklassigem Personal. Damit kommen große Herausforderungen auf die evangelischen Kindertagesstätten zu. Die Unterstützung ihrer Kirchengemeinden werden sie brauchen. Tanja Haberkamp in Dümpten fühlt sich schon gestärkt, wenn ab und zu jemand aus der Gemeinde sagt: "Ihr macht das gut!"