Es war eine schwere Geburt. Als das evangelische Gesangbuch (EG) zwischen 1993 und 1996 in den deutschen Landeskirchen, in Österreich, Luxemburg und Elsaß-Lothringen eingeführt wurde – vor rund 20 Jahren also – da lag bereits eine fast ebenso lange Vorbereitungszeit hinter den in Fachausschüssen und Gremien versammelten Experten. Das tradierte Liedgut mit neuen Melodien und Texten in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, die Herausforderung eines jeden Gesangbuch-Projekts, schien diesmal ###mehr-artikel### besonders aufwendig. Denn viel hatte sich getan in den Jahrzehnten zuvor. Das Neue geistliche Lied kam als kreativer Regenguss über eine ausgetrocknete kirchenmusikalische Landschaft. Der Einfall der Pop- und Rock-Idiome, gewürzt mit Elementen anderer Kulturen in den sakralen Raum war fundamental und fiel in vielen Gemeinden und kirchlichen Gruppen auf fruchtbaren Boden. Auch die Texte sprachen eine durchweg andere Sprache als die der überkommenen Choräle. Gegenwärtiger und direkter, oft freilich auch kunstloser – banaler, wie ihnen ihre Kritiker vorwarfen.
Als die Welle auf dem Frankfurter Kirchentag 1956 mit dem Musical "Hallelujah Billy“ anrollte, war der Vorläufer des EG, das Evangelische Kirchengesangbuch (EKG), gerade erst in den Gemeinden angekommen. Die Fülle neuer Lieder, die entstand, fand in Heften Platz, die parallel zum EKG in den meisten Kirchen benutzt wurden. In der sonntäglichen Praxis trennte sich die Spreu vom Weizen. Manches bestand diese Feuertaufe.
Endlich "O du fröhliche" und "Stille Nacht" im Gesangbuch
Nach mehr als drei Jahrzehnten war ein neues Gesangbuch schließlich überfällig, die Mängel des EKG längst offensichtlich. Nicht nur fehlten dort die Neuen geistlichen Lieder, sondern etwa auch die bekanntesten Weihnachtslieder, "O du fröhliche“ und "Stille Nacht“. Den Dschungel zu lichten, aus der Vielfalt des Möglichen ein mehrheitsfähiges Konzept zu erarbeiten, war eine schwierige Aufgabe. Es wurde heftig gestritten. Etwa über das Bonhoeffer-Lied „Von guten Mächten treu und still umgeben“ (EG 65). Die tröstlichen Verse, die der Theologe aus der Gestapo-Haft an seine Verlobte schrieb, galten einigen als zu privat. Auch die Frage, welche der verschiedenen Vertonungen die geeignetste ist, war zu diskutieren. Heute zählt das Lied zu den beliebtesten des EG.
Der Stammteil umfasst 535 Nummern – 173 Gesänge mehr als sein Vorläufer im EKG. Viele sind mit einem "ö“ wie "ökumenisch" gekennzeichnet und verweisen so auf den gemeinsamen Gebrauch dieser Lieder im evangelischen und katholischen Gottesdienst. Bisweilen sind auch zwei Fassungen abgedruckt – etwa bei "Lobe den Herren, den mächtigen König“ (EG 316/317). Mehrstimmige Sätze, Kanons und liturgische Gesänge regen zu einer musikalisch abwechslungsreichen Gestaltung der Gottesdienste an. Abgedruckt sind auch Psalmen, Gebete, Glaubensbekenntnisse und zentrale theologische Texte wie der Kleine Katechismus oder die Barmer Erklärung. Regionale Variationen zeigen sich nicht nur in den Liedern des Anhangs, sondern auch in Aufmachung und Gestaltung des Gesangbuchs. In einigen Landeskirchen, etwa Württemberg und Bayern, erscheint es im Mehrfarbdruck, mit eingestreuten Kunstreproduktionen und literarischen Texten.
Neue geistliche Lieder besonders beliebt
Neue geistliche Lieder haben viel Gewicht im aktuellen Gesangbuch. Einige von ihnen – "Danke für diesen guten Morgen“ (EG 334), "Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“ (EG 643), "Bewahre uns Gott“ (EG 171) – stehen einer Umfrage zufolge an der Spitze der Beliebtheitsskala, neben Klassikern wie "Lobe den Herren“ (EG 316) oder "Es ist ein Ros entsprungen“ (EG 30). Ein Umstand, der den Entscheidungen der Gesangbuch-Macher im Nachhinein Recht gibt.
###mehr-links### Wie alle seine Vorgänger seit der Reformation ist auch das EG eine Momentaufnahme, festgehalten zwischen zwei Buchdeckeln. Spätestens am Tag seines Erscheinens beginnt es zu veralten. Wann also kommt das nächste Gesangbuch? Nicht vor 2030, schätzen Experten. Die Entwicklung wird weitergehen bis dahin. Neue Lieder werden geschrieben, verbreitet und getestet wie schon zu Luthers Zeiten. Sie werden bleiben oder wieder verschwinden. Ein lebendiger Prozess.