Heimat
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Heimat suchen und finden - ... und dabei nicht immer ankommen.
Wenn die Heimat fern bleibt
Menschen wollen an einem Ort ankommen und schaffen das auf Zeit, manchmal gar nicht. In Zeiten des Pendelns wird Heimat bedeutsam. Dabei prägen Vorstellungen, Bedürfnisse und die eigenen Wünsche das nebelhafte Heimatgefühl. Manchem fällt es schwer, in der Ferne neu vor Anker zu gehen. Dann fängt sie wieder an: die rastlose Suche nach der eigenen Bleibe.
28.06.2013
evangelisch.de
Markus Bechtold

Die eigene Heimat muss keineswegs der Geburtsort oder die Stätte der Kindheit sein. "Heimat ist dort, wo man sich aufgehoben fühlt", sagt der Sozialpsychologe Edzard Glitsch. Wer mit seinen Vorstellungen und Bedürfnissen in seiner gut Umgebung aufgehoben ist, diese als angenehm erlebt, fühlt sich meist sicher und geborgen. Wichtig sind die Bindungen zu anderen Menschen, zu Freunden, zum Partner, "die verlässlich, vertrauensvoll und auch auf Basis gegenseitigen Verstehens stattfinden."

Holzer: "Heimat ist Familie und Freunde"

"Ohne Heimat sein heißt leiden", sagt der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski. Zumindest unwohl fühlte sich auch Sarah Holzer. Die 28-Jährige Online-Marketingmanagerin stammt aus dem südlichsten badischen Zipfel Deutschlands: Konstanz am Bodensee. Die Schweiz grenzt an und Österreich ist nicht fern. Bei guter Sicht sind die Berge nah. Heimat, das ist für sie Familie, sind Freunde und da sind Menschen, die Gemeinschaft leben. Ein gutes Arbeitsangebot lässt sie ihre Koffer packen und über die Landesgrenze nach Österreich, nach Feldkirch im Vorarlberg, ziehen. Die Kulisse des Idylls scheint, oberflächlich betrachtet, aus vergangenen Urlaubstagen mit der Familie in der Ferienwohnung vertraut.

###mehr-artikel###Sobald der Feierabend einläutet, bleiben die Vorarlberger jedoch im Kreise ihrer Freunde und Familie unter sich und Sarah Holzer mit deutschen Arbeitskollegen allein. Ihre Vorstellung von Heimat deckt sich zwar mit dem der Österreicher: Familie und Freunde. Ihr wird aber klar, dass sie nicht ankommt. Zu groß scheinen die mentalen Unterschiede. Was viele Vorarlberger nicht verstehen, ist: "Wie kann man nur wegen der Arbeit die Familie verlassen?" Andererseits werden Deutsche beäugt, die allein wegen der Arbeit nach Vorarlberg fahren und es nach Feierabend wieder verlassen. Holzer kündigt ihre Arbeitsstelle und zieht zu ihrem Freund nach München. Jetzt sehnt sie sich nicht mehr, wie zu Zeiten der Fernbeziehung mit ihrem Partner, nach einem der hell beleuchteten Häuser, die so zu oft wieder zurück auf dem Weg zum Arbeitswohnort am Rande der Autobahn sah. "Für mich ist eines der wichtigsten Gefühle, am Sonntagabend nicht mehr weg fahren zu müssen." Denn jetzt knippst sie sonntagabends das Licht im eigenen Zuhause an, ist angekommen.

Stolperfallen vermeiden: Balance zwischen Erfolg und Familie

"Wer merkt, dass er an einem Ort nicht ankommt, soll weiterziehen", rät auch Glitsch. Für den Sozialpsychologen gibt es kaum einen Grund, der rechtfertigt, dass jemand sein Dasein erleiden müsse. „Menschen können ihr Leben selbst gestalten.“ Wer sich von einem Arbeitgeber zu einem Ortswechsel habe hinreissen lassen, der kann enttäuscht werden, wenn er feststellt, dass er trotz einer guten Bezahlung beispielsweise mit dem Arbeitsklima unzufrieden ist. Um an einem neuen Ort gut anzukommen, sollte man klären, ob man mit den Menschen vor Ort und ihrer Mentalität klarkommt. Wer sich in einer Region, in einem Unternehmen nicht wohl fühlt, der kann an der Mentalität von Menschen oder der Unternehmenskultur nicht viel ändern.

Eine Stolperfalle sei es, einem Wunsch hinterherzurennen, obwohl die tatsächlichen Gegebenheiten an einem Ort deutliche Unzufriedenheit hervorrufen“, sagt Glitsch. Wer weiß, was ihm im Leben wirklich wichtig ist, zieht schneller Konsequenzen. Eine extreme Karriere werde heute von vielen Menschen eher kritisch betrachtet, eine extreme Familienflucht andererseits könne den Menschen auch nicht glücklich machen. "Viele Menschen suchen mittlerweile eine Balance zwischen beruflichem Erfolg und Familie." Wenn in beiden Bereichen alles gut läuft, sind Menschen zufrieden. Bei einem Ungleichgewicht geht es dem Menschen hingegen schlechter. "Spannungszustände wollen immer wieder ausgeglichen werden", sagt Glitsch: Geld und Gefühl sollten miteinander harmonieren.

Feldermann: "Für mich ist Heimat ein Lebensgefühl"

###mehr-galerien###Katrin Feldermann ist noch auf Heimatsuche. Die 32-Jährige lebt als Sozialarbeiterin in Frankfurt am Main und schreibt ihre Doktorarbeit über ein Land, in das sie sich 2002 Hals über Kopf verliebt hat: Brasilien. Wenn man Heimat einem festen Platz in der Welt gleichstellt, dann habe sie die Ihrige verloren. Mittlerweile fühlt sich Feldermann als "moderne Nomadin", immer unterwegs zwischen zwei Welten. Rastlos ist sie in Deutschland, wo sie die längste Zeit lebt. Allein in den vergangenen drei Jahren hat sie sieben Mal ihre Wohnung gewechselt. Sie kommt nicht an.

"Mir fehlt die menschliche Wärme und mir fehlt die Zuversicht der Menschen in Deutschland“, sagt Feldermann. "Man lebt nicht um zu arbeiten, man arbeitet um zu leben", sei hingegen in Brasilien gelebte Realität. Seit zehn Jahren engagiert sie sich als Vorstandsvorsitzende mit ihrem Verein Amigos für Kinder in Not. Das geht von Deutschland aus besser, ein Grund für sie zu bleiben. "Wenn ich in Brasilien bin, vermisse ich ganz stark meine Familie, meinen Hund, meine Freunde. Wenn ich in Deutschland bin, vermisse ich alles, was ich an Brasilien so sehr liebe". Feldermann lebt in Spannung. Bei ihren Freunden herrscht Ungewissheit: "Ist sie da, ist sie weg, geht sie für immer?" Sie spürt, dass ihr schwer fällt, sich auf den Alltag in Deutschland einzulassen. Aber wenn die Sozialarbeiterin mindestens einmal im Jahr für ein paar Wochen in Brasilien ist, werde sie für alles, was ihr in Deutschland fehlt, wieder entschädigt. Mit der Herzlichkeit der Menschen tankt sie in Brasilien Lebensenergie auf. Brasilien ist ihr Lebenstraum, den zu leben sie sich allerdings nicht mit eigenen Kindern vorstellen kann. Während ihre deutschen Freunde ihr Blick auf ein eigenes Haus richten, geht ihr Blick in die Zukunft gerade einmal bis in das Jahr 2015. "Ich fühle mich innerlich zerrissen, auch weil man gegen den Strom schwimmt. Aber ich bin sehr glücklich mit dem, was ich mache." Heimat, das ist für Katrin Feldermann kein Ort: "Heimat ist ein Lebensgefühl."

Glitsch: "Heimat ist dort, wo das Herz hängt"

###mehr-personen###Wo Menschen positive Erlebnisse haben, ist die Chance groß, heimisch zu werden. "Das kann der Ort sein, an dem man aufgewachsen ist und wo die Eltern leben, muss es aber nicht", sagt Glitsch und ergänzt: "Heimat ist dort, wo das Herz hängt, wo ein Sicherheits- und Vertrautheitsgefühl ist." Eben dort, wo Menschen sich angenommen fühlen und ankommen. Ortskenntnis kann dabei eine Rolle spielen, die gewohnte Umgebung. Das wichtigste aber sind immer die Menschen vor Ort, betont der Sozialpsychologe.

Um heimisch zu werden, müsse man erst einmal in sich selbst hineinhorchen, um zu erfahren, was man überhaupt möchte. Dem gehen Fragen voraus, wie „Wo möchte ich eigentlich hin?  Wo möchte ich ankommen?“

Werth: "Mein Lebensmittelpunkt ist meine Heimat"

Gregor Werth lebt nur für kurze Zeit im Jahr im hessischen Main-Taunus-Kreis. Der 42-Jährige arbeitet seit Jahren im Entwicklungsdienst und seit dem Erdbeben Mitte Januar 2010 als Landeskoordinator bei der humanitären Hilfsorganisation "Help" auf Haiti, einem der ärmsten Länder der Welt. Dort leitet er Projekte des Wiederaufbaus. Seine Heimat ist, wo sein Lebensmittelpunkt ist. Und: "Heimat ist, wo ich mich wohl fühle." Gut möglich, dass er auch zwei heimatliche Gefilde habe: einmal in Deutschland, einmal in der Ferne. Werth arbeitet in Katastrophengebieten, dort wo seine Hilfe gebraucht wird. 39 Monate hat er in Westafrika gelebt und gearbeitet: in Niger, Burkani Faso, Simbabwe, Benin, Togo, Senegal und Mali. Ist er auf Haiti, vermisst er seine Mutter, seine Schwester und Nichten und die Möglichkeit, sich abends mit einem Freund auf ein Bier zu treffen, "zu schwätzen". Freunde und Bekannte findet er aber auch an neuen Orten. Auf Haiti lebt er mit seiner Freundin, zwei Hunden und vier Katzen in einem Haus mit Garten. Dort bauen sie Gemüse an. Auch das ist ein Stück Heimat. Trotz des ständigen Unterwegsseins ist Gregor Werth in seinem Leben angekommen, ob er nun in den Flieger nach Deutschland oder nach Haiti steigt. Er sagt: "Jetzt fliege ich heim." Für immer in Deutschland zu leben, kann sich der Mann nicht vorstellen. Dann würde er unzufrieden werden. "Ich fahre jedoch gezielt Weihnachten nach Hause, in der Hoffnung, Schnee zu haben." Zugleich schätzt er es, an seinem Geburtstag im Januar unter südlicher Sonne zu grillen.

Das Leben auf Haiti ist kein Kindergarten. Es ist heiß, 40 Grad, überall liegt Dreck und Müll, Tiere streunen umher und Häuser sind oftmals ohne Strom und fließend Wasser. Anstrengend ist der Autoverkehr. Seine Arbeit empfindet Werth trotzdem als sehr befriedigend. Er sieht, dass sich was bewegt, wenn Menschen wieder ihr Leben in die eigene Hand nehmen können. Ein Projekt loszulassen und weiterzuziehen fällt ihm schwer. Er tut es aber dennoch. Nach Deutschland reist er, um zur Ruhe zu kommen. "Dann profitiere ich vom Luxus in Deutschland. Bis ich anfange, mir ein bisschen sinnlos vorzukommen." Dann beginnt das Kribbeln und er zieht wieder los.

Menschen suchen ständig nach dem Glück

"Menschen streben nach Zufriedenheit und der Erfüllung ihrer Wünsche", sagt Edzard Glitsch. Da kann es sein, dass mancher, der sich Zuhause gefühlt hatte, ein paar Jahre später erneut wieder auf die Suche geht. "Das Bedürfnis nach Wandel macht wieder neugierig und bestätigt, dass man fest im Leben steht und am Leben teilnimmt." Dann werden wieder neue Herausforderungen gesucht. Der Sozialpsychologe ist sich sicher: "Im Leben kann man durchaus öfter ankommen."