Foto: dpa/Keiny Andrade
Demonstranten in Sao Paulo feiern die Rücknahme der Preiserhöhung für Busse.
Brasilianer tragen ihre Wut auf die Straße
Mehr als eine Million Menschen bei Massenprotesten
Die friedlichen Proteste schlagen oft an einem Stadion in Gewalt um, und das in der Fußballnation Brasilien. Auf den Straßen entlädt sich der Unmut über miserable Schulen, Busse und Kliniken, während der Staat Milliarden für WM-Sportstätten ausgibt.
21.06.2013
epd
Andreas Behn

"Brasilien ist aufgewacht" skandieren die Demonstranten. Auf Pappschildern tragen sie ihre Forderungen und Kritik vor: "Wir wollen Krankenhäuser mit FIFA-Standard" oder "Korrupte Politiker, euer Mandat ist begrenzt, das unsere nicht". Während internationale Fußball-Teams in Brasilien den Confederations-Cup austragen, erreicht die Protestbewegung einen neuen Höhepunkt. Rund 1,2 Millionen Männer und Frauen, so wird geschätzt, trugen am Donnerstag ihre Wut auf die Straße. Was friedlich begann, schlug vielerorts in Gewalt um.

Hunderttausende Brasilianer legten das Land praktisch lahm. Feuer loderte auf den Straßen, Steine flogen, Scheiben wurden eingeworfen. Die Polizei ging mit Tränengas und Gummigeschossen vor. Seit Wochen ziehen Demonstranten zunächst friedlich und gut gelaunt durch Rio de Janeiro, São Paulo, Brasilia und viele weitere Städte. Ihre Ziele sind Regierungssitze, Stadtparlamente oder Fußballstadien, die gerade erst für die WM im kommenden Jahr errichtet wurden.

Größte Protestbewegung seit zwei Jahrzehnten

Spätestens an den Sport-Arenen kommt es meist zu Ausschreitungen. Randalierer liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. "Keine Gewalt" ruft die Mehrheit beiden Seiten zu, vergebens. Ausgelöst durch die Erhöhung von Fahrpreisen, entlädt sich der Unmut über eine Vielzahl von Missständen im größten Land Lateinamerikas. Unzufrieden sind die Brasilianer mit maroden und überfüllten Schulen, Universitäten, Krankenhäusern und Transportmitteln.

Am deutlichsten sind die Defizite im öffentlichen Nahverkehr. Busse und die wenigen Bahnen sind in miserablem Zustand. Viele Brasilianer kommen verschwitzt und erschöpft an ihrem Arbeitsplatz an. "Zwei private Busunternehmen haben das Monopol im öffentlichen Stadtverkehr, es ist eine richtige Mafia," erklärt Marilena Chauí von der Bundesuniversität in São Paulo. Der Service sei so schlecht, da es ihnen nur um den Profit gehe. Die Fahrer würden ausgebeutet, ständig komme es zu tödlichen Unfällen.

Die Fußballnation Brasilien erlebt die größte Protestbewegung seit zwei Jahrzehnten. Das Ausmaß hat alle überrascht. Wirtschaftlich geht es dem Land so gut wie lange nicht mehr, der jahrelange Aufschwung und gestiegene Sozialleistungen haben den Lebensstandard aller deutlich erhöht, auch der Ärmeren. Seit zehn Jahren regiert die Arbeiterpartei (PT). Präsidentin Dilma Rousseff wie auch ihr Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva hatten stets sehr hohe Beliebtheitswerte. Beide waren selbst in sozialen Bewegungen verwurzelt, die heute zwar die Politik der PT kritisieren, sie aber der rechten Opposition eindeutig vorziehen.

Arme Bürger in einem reichen Land

Woher also diese Wut? Rousseff selbst sagte in einer ersten Reaktion, die Menschen hätten von der Entwicklung der vergangenen Jahre profitiert: "Jetzt verlangen sie zurecht noch mehr." Das Gefühl, ein armer Bürger in einem reichen Land zu sein, ist bei den Protesten oft zu spüren. "Wir sind die siebtgrößte Wirtschaftsnation und wollen einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat, sind aber nicht in der Lage, U-Bahnen zu bauen und den Ärmeren ein Leben in Würde zu bieten," sagt ein Demonstrant.

Der Staat gibt Milliarden für die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 aus, ohne dass die Bürger Verbesserungen für sich erkennen. "Die neuen Verkehrswege verbinden nur die reichen Touristenviertel mit den Spielstätten oder dem Flughafen", kritisierte der Urbanistikprofessor Orlando dos Santos Junior. Während die Fußball-Welt auf Brasilien schaut, nutzen die Demonstranten den Confederations-Cup als willkommene Bühne für ihren Protest.

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Es ist eine städtische Protestbewegung, die von Studenten und jungen Berufstätigen aus der Mittelschicht getragen wird. Viele Demonstranten waren noch nie politisch aktiv. Vor allem in den Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro erleben sie den Kontrast zwischen Wirtschaftsboom und veralteter Stadtplanung als besonders krass. Die Städte ersticken in Blechlawinen, die Zahl der Autos ist in zehn Jahren sechs Mal so schnell gestiegen wie die Bevölkerungszahl. Tägliche kilometerlange Staus sind normal. Der öffentliche Nahverkehr wurde nicht ausgebaut. So wird der Alltag zu einem Problem, für alle. Und das Vertrauen in die Politiker schwindet.