Sie stehen in der Fußgängerzone. Sie bewegen sich nicht. Sie rufen keine Parolen. Und sie halten auch keinen Blickkontakt zu Passanten, die ihre Schritte verlangsamen oder sogar stehen bleiben. Ist es ein Kunsthappening? Diese Vermutung kommt einem als erstes in den Sinn.
Wer sich die Mühe macht und die Pappschilder liest, die die Frauen und Männer vor ihren Füßen ausgelegt haben, bekommt eine Antwort: Es ist eine Demonstration. Am Dienstagabend haben sich auf der Zeil, Frankfurts zentraler Einkaufsmeile, etwa zehn Frauen und Männer versammelt, um still zu stehen. Die Form des Protestes initiierte zwei Tage zuvor ein türkischer Performancekünstler in Istanbul. Der "duran adam – still stehender Mann" weilte über mehrere Stunden auf dem Taksim-Platz, um unter anderem das gewalttätige Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten anzuprangern. Seit drei Wochen gehen Sicherheitskräfte mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Aktivisten der türkischen Demokratiebewegung vor. Vier Tote, rund 7000 Verletzte und hunderte Verhaftungen - das ist die vorläufige Bilanz.
"Mit Leuten, die militaristische Parolen rufen, kann ich nichts anfangen"
Über Postings in sozialen Netzwerken schwappte der Duran-Adam-Protest in kurzer Zeit in andere türkische Städte und auch ins Ausland über. Ob in Frankfurt, Berlin, Hamburg oder Hannover: Türkeistämmige Frauen und Männer treffen sich nunmehr an zentralen Orten, um mit dieser Form des zivilen Ungehorsam den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seine islamisch-konservative Regierung zu kritisieren und von ihm das Einhalten demokratischer Grundsätze einzufordern.
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Die politische Situation im Herkunftsland lässt die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland nicht kalt. Seit Beginn des Bürgeraufstands rufen unterschiedliche Organisationen zu Demonstrationen auf. Weitgehend unbemerkt von der deutschen Bevölkerung setzen sie aber die aus dem Herkunftsland importierten Grabenkämpfe fort und schaffen nicht das, was der Bürgerbewegung in der Türkei gelungen ist: Trotz ideologischer Unterschiede und politisch divergierender Meinungen gemeinsam für mehr Demokratie auf die Straße zu gehen.
"Wir demonstrieren für Menschenrechte in der Türkei", so erklärt Basak Yildirim den Grund für die Aktion in der Frankfurter Innenstadt. Sie engagiert sich in der "Föderation demokratischer Arbeitervereine" (DIDF), in der sich unterschiedliche Gruppen von türkeistämmigen Linken zusammengeschlossen haben. Für die 26-Jährige und ihre Mitstreiter geht es um "universelle Werte", und deswegen hat sie Schwierigkeiten, mit Atatürk-Anhängern gemeinsam zu demonstrieren. "Mit Leuten, die militaristische Parolen rufen, kann ich nichts anfangen", sagt die Studentin.
Die einen laut, die anderen leise
Mit Fahnen des Republikgründers und Slogans wie "Wir sind Atatürks Soldaten" demonstriert nämlich eine ganz andere Fraktion. Und auch die Aleviten rufen zu eigenen Kundgebungen auf. So kann es passieren, dass am selben Tag zur selben Zeit in einer deutschen Stadt mehrfach gegen die Erdogan-Regierung protestiert wird – organisiert von unterschiedlichen Vereinen und Verbänden. Während die einen Parolen skandieren, stehen andere einfach nur still im öffentlichen Raum.
Auffällig ist, dass sich eine Gruppe bislang gar nicht zu Wort gemeldet hat: die in Vereinen und Verbänden organisierten Muslime mit türkischen Wurzeln. Und wenn sie sich äußern, möchten sie nicht mit Namen zitiert werden. Aus den Gesprächen wird deutlich: Wie die laizistisch Gesinnten sind auch die religiösen Türkeistämmigen in ihren Meinungen gespalten. Manch ein muslimischer Gesprächspartner ist der Ansicht, dass die Demokratiebewegung verlogen ist.
"Es wird mit zweierlei Maß gemessen, wenn es um Selbstbestimmung und Menschenrechte geht", sagt etwa ein Endvierziger. Denn all die, die jetzt demonstrierten, hätten es hingenommen, dass in der Türkei Frauen mit Kopftuch von den Universitäten verwiesen wurden. "Wieso ist deswegen keiner auf die Straße gegangen?", fragt der Mann. Dass sich türkischstämmige Muslime nicht positionieren, könne zwei Gründe haben, mutmaßt Mürvet Öztürk, Integrationspolitische Sprecherin der Grünen im hessischen Landtag: "Zustimmung für die Vorgehensweise von Erdogan oder aber kritische Zurückhaltung."
Warum schweigen die Muslime?
Die Frage, warum die Muslime schweigen, beschäftigte unlängst auch das türkische Parlament. Ein Abgeordneter der Oppositionspartei CHP richtete das Wort an die religiösen Bürger des Landes und fragte: "Wo bleibt ihr Gewissen? Seid gewissenhaft und lasst euch von Gott leiten und nicht von einem Ministerpräsidenten, der wissentlich Lügen verbreitet." Letzteres bezieht sich auf Erdogans wiederholte Behauptung in den Meetings, dass Aktivisten der Bürgerbewegung in der Moschee, in die sie sich vor Tränengasattacken gerettet hatten, Alkohol getrunken hätten. Das hatte aber der Imam der Moschee dementiert.
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Ein mit Interna vertrauter Publizist führt die Zurückhaltung von Anhängern der Regierungspartei AKP auf ihre Loyalität zurück. "Auch wenn sie es als Muslime nicht gut heißen, wie mit Demonstranten umgegangen wurde und wird: Öffentlich würde das wohl keiner aussprechen", so der für türkische Medien arbeitende Gesprächspartner. Ihn erstaunt, dass sich Muslime nicht zu Wort melden. Denn für einen Muslim sei Gewaltanwendung nicht vertretbar. "Türkeistämmige Muslime müssten eigentlich einen Appell an Erdogan richten, den Weg des Dialogs zu wählen", meint der Publizist. Gerade weil hierzulande Islam mit Extremismus und Gewalt in Verbindung gebracht werde, sei solch ein Signal wichtig.