"Seit Beginn der Auseinandersetzungen liegt Tränengas und Pfefferspray-Gas über den an den Taksim angrenzenden Wohngebieten, auch über unserem Viertel, und es zieht immer wieder auch in die Kirche und die Wohnräume", berichteten die Auslandspfarrerin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Ursula August, und die Öffentlichkeitsreferentin der Gemeinde, Susanne Landwehr, am Mittwoch in Istanbul. Die Evangelische Kreuzkirche liegt etwa zwei Kilometer vom Taksim-Platz entfernt.
"Die Räumung vom Dienstag hat im gesamten Land großes Entsetzen ausgelöst", sagten August und Landwehr weiter. Die Menschen hätten auf ein Treffen zwischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Vertretern der Taksim-Plattform gehofft, aber durch die gewaltsame Beendigung der Proteste fühlten sie sich jetzt verraten.
Derzeit ist nach Einschätzung der evangelischen Gemeinde die weitere Entwicklung in der Türkei nicht abzuschätzen. Für das Wochenende seien in Ankara und Istanbul große Gegendemonstrationen von Anhängern der regierenden AK-Partei angekündigt. "Wir hoffen, dass sie nicht zu unkontrollierbaren Straßenschlachten ausarten", sagten August und Landwehr. Die deutsche evangelische Gemeinde verstehe die Proteste, verurteile jedoch die Gewalt auf beiden Seiten.
Bebauung des Gezi-Parks "nur Spitze des Eisbergs"
Die geplante Bebauung des beliebten Gezi-Park, der Auslöser der Proteste, sei nur die Spitze des Eisberges, erklärten die Vertreterinnen der Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei. Seit Jahren treibe die Regierung mit großen Bauprojekten die wirtschaftliche Entwicklung des Landes voran. Der Bau von Flughäfen, Brücken und Wasserkraftwerken sei allerdings umstritten, weil er Lebensraum, historische Stätten oder die Umwelt zerstörte. Die Menschen seien meist nicht einbezogen worden.
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Die Regierung habe jedoch auch viel erreicht, sagten August und Landwehr weiter. Das Land sei wirtschaftlich erfolgreich und habe die politische Öffnung zu den Nachbarländern weiter vorangetrieben. Es gebe ein Antidiskriminierungsgesetz und eine überparteiliche Zusammenarbeit gegen Ehrenmorde und Gewalt an Frauen. Außerdem sei Erdogan mit den nicht-muslimischen christlichen Minderheiten in den Dialog getreten, die Regierung habe beispielsweise den orthodoxen Gemeinden oder auch der jüdischen Gemeinde enteignete Liegenschaften zurückgegeben.
Am Mittwoch wollte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan Künstler und Vertreter der Protestbewegung zu einem Gespräch treffen, berichtete die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu. Die Rundfunkbehörde RTÜK ging derweil gegen kritische Sender vor. Der Sender Halk TV, der anders als die Nachrichtensender der türkischen Medienkonzerne durchgehend über die Demonstrationen berichtet, und drei weitere Stationen seien zu Geldstrafen verurteilt worden, berichteten türkische Medien am Mittwoch. Die Rundfunkbehörde wirft den TV-Stationen vor, gegen Sendeprinzipien verstoßen zu haben und mit ihren Programmen die physische, geistige und moralische Entwicklung junger Menschen zu gefährden, hieß es weiter.
International wachsen die Bedenken
International wachsen Besorgnis und Kritik wegen des Vorgehens der türkischen Polizei. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Seibert "konstruktive Gespräche durch Besonnenheit aller Seiten". Außenminister Guido Westerwelle (FDP) rief zur Zurückhaltung auf. "Die türkische Regierung sendet mit ihrer bisherigen Reaktion auf die Proteste das falsche Signal, ins eigene Land und auch nach Europa", sagte Westerwelle am Mittwoch in Berlin. "Wir erwarten, dass Ministerpräsident Erdogan im Geiste europäischer Werte deeskaliert und einen konstruktiven Austausch und friedlichen Dialog einleitet."
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief alle Beteiligten zu Ruhe und friedlichem Dialog auf. "Proteste sollten friedlich sein, und das Recht auf Versammlung und freie Meinungsäußerung sollte respektiert werden, denn das sind fundamentale Prinzipien eines demokratischen Staates", sagte sein Sprecher in New York.
Die türkische Regierung habe mit der Entscheidung, den Taksim-Platz in der Nacht durch die Polizei räumen zu lassen, Bemühungen um einen friedlichen Dialog zerstört, kritisierte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch am Mittwoch. "Tränengas auf Zehntausende Menschen auf dem Taksim-Platz zu feuern, wird die Krise nicht lösen."