Foto: Julia Baier
Michael Betzner-Brandt leitet den "Ich-kann-nicht-singen"-Chor und lässt die Teilnehmer "Töne pflücken"
Singen kann jeder!
Drei Laien-Chöre: Der eine pflückt Töne aus der Luft, der zweite Chor verbindet Singen mit einer Kneipentour und im dritten wird Inklusion gelebt. Und evangelisch.de sucht den Chormeister 2013 – viele Chöre haben sich bereits beworben, die Abstimmung hat begonnen.

Der Ich-kann-nicht-singen-Chor

Angst vor schiefen Tönen muss hier keiner haben. Denn: Jeder kann singen, davon ist Michael Betzner-Brandt überzeugt. Der Dirigent hat den Ich-kann-nicht-singen-Chor vor zwei Jahren ins Leben gerufen, seither lädt er einmal im Monat zum gemeinsamen Singen ein. Statt mit Noten und fertigen Texten arbeitet er mit kurzen Motiven, die sich wiederholen. Da erklingt zum Beispiel die Liedzeile "Jeder kann singen" in verschiedenen Tonhöhen, eine Gruppe singt in einer tiefen, eine zweite in einer mittleren und eine dritte in einer hohen Lage. Oder die Sänger pflücken ihren Ton aus der Luft. Betzner-Brandt macht es vor: Er greift mit der Hand nach oben, summt einen Ton an, streckt die Handfläche – weiterhin summend – nach vorne. Wenn das alle auf einmal machen, füllt der Klang den ganzen Raum. Klingt chaotisch, ist es aber nicht: "Meistens verteilen sich die Töne auf die Dreiklänge, ohne dass die Leute es wissen", sagt Betzner-Brandt. Denn Harmonien zu singen ist einfach – schwierig wird es erst, wenn Töne sich reiben.

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Es geht darum, Freude am Singen zu vermitteln, über die Musik mit anderen zu kommunizieren. Das zu singen, was in den Noten steht, ist hier unwichtig. "Der Chor heißt nicht Jeder-kann-die-h-Moll-Messe-singen", sagt Betzner-Brandt. Stattdessen lautet das Motto: Persönlichkeit vor Perfektion. Wer kommt, hat vielleicht schon in einem klassischen Chor gesungen. Bei Betzner-Brandt nutzen viele die Chance einmal ohne Noten zu singen, sich auszuprobieren, ihren individuellen Klang zu finden. Oder sie haben in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit dem Singen gemacht, haben vermittelt bekommen, nicht singen zu können, obwohl es ihnen eigentlich Spaß macht. Nach einer langen Pause ist der Ich-kann-nicht-singen-Chor dann oft der Anlass, es doch noch einmal zu versuchen.

Die Resonanz ist groß, um die achtzig Leute kommen zu den Terminen. Und sie nehmen etwas mit nach Hause. Eine Teilnehmerin formulierte das in einer  E-Mail an Betzner-Brandt so: "Noch lange nach dem Workshop konnte man förmlich spüren, wie der ganze (Klang)körper vibriert, wie es in einem drinnen nachklingt, die ungewohnte 'Anstrengung' der Stimmbänder und Lungen fühlen. Ein bisschen hatte ich das erwartet, doch in diesem Ausmaß hat es mich überrascht."

Der Hamburger Kneipenchor

Statt Bach und Brahms stehen Katy Perry und Franz Ferdinand auf dem Programm, kiloschwere Notenmappen sucht man vergebens und der Griff zur Bierflasche gehört zur Probe dazu –  entspannt singen und dabei Spaß haben, darum geht es im Hamburger Kneipenchor. Wer zwar fantastisch singt, es aber nie zur Chorprobe schafft, ist hier schlecht aufgehoben. "Wir wollen kein Elite-Chor sein", sagt Chorleiter Christian Sondermann. Und trotzdem ist der Chorklang nicht egal. Die Probe muss auch ein bisschen anstrengend sein, an den Stücken wird gefeilt. "Am Ende soll es schön klingen", sagt Sondermann, "das hebt die Stimmung, und Spaß entsteht auch durch Arbeit."

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Seit dem Frühjahr gibt es den Kneipenchor in Hamburg. Gründerin Hilke Cordes war auf den Berliner Kneipenchor aufmerksam geworden und wollte etwas Ähnliches in Hamburg starten, holte

Christian Sondermann mit an Bord. Mittlerweile ist der Chor auf 40 Mitglieder angewachsen. "Wir sind voll", sagt Sondermann. Der Alt war schon lange vor der ersten Probe vollständig besetzt, der Sopran kurz vorher, und sogar die Männerstimmen sind mittlerweile gut vertreten – es gibt jetzt eine Warteliste. Chorerfahrung ist keine Voraussetzung, auch wenn manche vorher schon in einem Chor waren. Gesungen wird, was gefällt. Dringender Wunsch für die nächsten Proben: Was von einer Boygroup.

Den ersten Auftritt hat der Hamburger Kneipenchor schon hinter sich gebracht, als Überraschungsgast bei einer Tagebuchlesung. Aufregend war das, ein großer Raum voller Leute, die die nicht wissen, was sie erwartet. "Am Anfang gab es ein nervöses Kichern, so nach dem Motto, was ist das jetzt, Katy Perry?" sagt Sondermann. Dann singen die Männer alleine, und es wird klar: Achso, die meinen das nicht ernst – und das Publikum jubelt, will eine Zugabe. Am 13. Juli ist es soweit: Dann geht es das erste Mal auf Kneipentour durch Hamburg.

Der Integrative Gebärdenchor Liebfrauen

Um zu singen, braucht es keine Laute. "Wir singen mit unseren Händen, unserem Körper, unserer Mimik", sagt Gebärdensprachdolmetscher Stefan Richter. Wer seine Hände vom Herzen aus im Halbkreis nach vorne führt, gebärdet beispielsweise "Liebe". Drei Finger der rechten Hand, abgespreizt, bedeuten "Gott". Doch auch wenn Gebärden das zentrale Ausdrucksmittel des Chors sind, besteht er nicht nur aus Gehörlosen: Die elf Männer und Frauen, die hier zusammengefunden haben, sind Hörgeschädigte, Hörende und Körperbehinderte unterschiedlicher Konfessionen und Nationalitäten, es ist eine bewusst integrative Gruppe.

Der Chor singt "Es ist ein Ros entsprungen“, die Gebärden bedeuten oben: Gott, Mitte: Glauben, unten: Blüte.

Inklusion meint hier, auch die Hörenden einzubeziehen, zum Beispiel indem der Chor bildhafte Gebärden verwendet, die ebenso für Hörende verständlich sind. Und anders als früher wird heute nicht nur still gebärdet, sondern auch mit Musik gearbeitet, viele Stücke werden mit Orgel und Gesang begleitet. Der Chor tritt einmal im Monat in der Frankfurter Liebfrauenkirche auf, die hörenden Chormitglieder helfen dann dabei den Takt vorzugeben, damit Chor und Gemeinde im Gottesdienst dasselbe Tempo haben. Der Chor hat seit seiner Gründung zahlreiche Fans gewonnen, die die Lieder nicht nur mitsingen, sondern auch mitgebärden können.

###autor###

Der Chor ist 2005 aus einem reinen Gehörlosenchor entstanden. Seither hat sich einiges geändert: Ging es in den Anfangsjahren vor allem darum, Aufmerksamkeit für die Gebärdensprache und die Situation der Hörbeeinträchtigten zu schaffen – die Gebärdensprache wurde in Deutschland erst 2002 rechtlich anerkannt – spielt heute ein poetischer Umgang mit den Gebärden eine große Rolle.

Wenn Stefan Richter einen Text in Gebärdensprache übersetzt, versucht er, möglichst schöne, fließende Gebärden zu finden: Heißt es in einer Liedzeile, dass der Heilige Geist Berg und Tal erfüllt, gehen die Gebärden für "Berg", "Tal" und "Gott" ineinander über – statt, wie üblich, einzeln gezeigt zu werden. Das Repertoire umfasst vor allem kirchliche Lieder. "Über sieben Brücken musst du gehen" zählt aber auch dazu.