Es ist 13 Uhr, an einem Werktag. Was heißt das für die Redaktion von "Der Tag"?
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Angela Fitsch: Wir haben gerade drei Stunden diskutiert. Wir hatten eine Kritik-Runde zur Sendung von gestern. Wir sind die geplante Sendung von heute Abend durchgegangen, bei der das ein oder andere noch ergänzt werden muss. Und wir haben das Thema für morgen bestimmt.
Sie hatten eine Konferenz von drei Stunden? Tun Sie sich das jeden Tag an?
Fitsch: Ja. Ich weiß, andere schlagen da die Hände über dem Kopf zusammen und sagen 'Um Himmels willen, was diskutieren die nur so lange?' Wir nehmen uns täglich die Zeit, ein Thema auszuwählen, es zu wenden und zu diskutieren. Uns ist es eben wichtig, einen originellen Zugang zu finden. Das verläuft nicht immer reibungslos, aber keine Sorge, wir haben eine sehr gesunde Streitkultur entwickelt, und am Ende steht immer ein Thema.
"Wir wollen den Hörer überraschen"
Wie sieht so ein origineller Zugang zu einem Thema aus?
Fitsch: Nehmen wir den Tag, als Osama bin Laden getötet wurde. Die Meldung habe ich morgens im Radio gehört. "Der Tag" läuft in hr2-kultur aber um 18 Uhr abends. Bis dahin hatten die Kollegen schon alle aktuellen Entwicklungen gebracht, Korrespondenten Aktuelles geschildert. Wir mussten einen anderen Zugang finden. Schließlich soll der Hörer mit einer neuen Wendung überrascht werden und nicht sagen: 'Alles schon gehört'. Also haben wir an diesem Tag eine Sendung zum Thema "Mein ist die Rache – Bin Ladens Tod und die Folgen" gemacht. Denn mit der Tötung des Al-Kaida-Führers scheinen die Toten des 11. Septembers gerächt. So kann man es sehen, denn Rache ist eine Tat, die erlittenes Unrecht ausgleichen soll. Bin Ladens Kopf für die Zerstörung der Twin Towers. So ist jetzt abgerechnet worden - auf Befehl des amerikanischen Präsidenten. Aber Rache ist eben auch eine Gewalttat und muss, wenn sie kein Verbrechen sein will, rechtlich gedeckt sein. Wann also ist Rache berechtigt? Wie viel Rache darf eine Gesellschaft zulassen ? Und: Welchen Fortschritt bringt Rache, wenn sie ihrerseits zu neuer Rache führt ?
Wie geht der Tag in der Redaktion dann weiter?
Fitsch: Im Anschluss haben wir circa vier bis fünf Stunden Zeit, die Sendung für den nächsten Tag zu planen: unsere Autoren zu beauftragen und Experten für Live-Gespräche zu finden. Und um 18 Uhr moderiert ein Kollege die Sendung oder ich.
"Eine ganz besondere Sendung,
die Kraft kostet"
In der Regel planen Sie aber von einem Tag auf den anderen.
Fitsch: Ja, aber auch das ist sportlich und macht Mühe. Dazu braucht man erfahrene Journalisten, sonst schafft man das nicht. Wir sind fünf Kollegen pro Sendung und pro Woche: ein Moderator, drei Planer, ein Producer, der für die Einstiegscollage und die akustische Gestaltung der Sendung zuständig ist. Das Team besteht aus insgesamt 15 Kollegen, alle mit unterschiedlichen Temperamenten und Lebensläufen. Jeder bringt seine eigenen Interessen und Fähigkeiten mit, junge, mittelalte und gestandene Journalisten. Und alle sind mit unendlich viel Spaß bei der Sache.
Scheint so, als hätten Sie Ihren Traumjob.
Fitsch: Absolut. "Der Tag" auf hr2-kultur ist eine ganz besondere Sendung, das wissen wir. Aber es kostet auch Kraft. Und völlig unmöglich wäre "Der Tag", hätten wir nicht die nötigte Freiheit, denn Freiheit schafft Kreativität. Freiheit haben wir vor allem in der Themenauswahl. Wir haben es noch nie erlebt, dass wir dabei eingeschränkt wurden. Dass "Der Tag" ein einmaliges Format in der ARD ist, haben auch andere gemerkt. Es ist einfach fantastisch, dafür belohnt zu werden und den Robert Geisendörfer Preis zu bekommen.
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Was macht die Sendung in Ihren Augen so einzigartig in der ARD-Landschaft?
Fitsch: Wir sind in der glücklichen Lage, ein Thema 55 Minuten lang in alle Richtungen drehen zu können, aus allen möglichen und unmöglichen Blickwinkeln zu beleuchten, die Perspektive zu ändern, zu überhöhen und neue Zugänge zu bieten. Dabei gibt es immer einen roten Faden, die Sendung ist keine bloße Aneinanderreihung von Musik und Wort. Es gibt eine Dramaturgie mit allen Radio-Formen wie Gesprächen, Glossen, Beiträgen und Schmuckstücken aus Poesie, Musik und Lyrik. Unsere Gespräche sind, wenn es irgendwie geht, immer live, der Authentizität und der Dramaturgie wegen. Sie bauen aufeinander auf. Dazu braucht man natürlich Wissen, Erfahrung und Kreativität. Aus diesem Mix entsteht "Der Tag". Wenn das Team nach Hause geht, sind wir erschöpft. Aber jeden Abend steht eine Sendung. Und das ist einfach ein wunderbares Gefühl.
Sie machen auch schon mal den rechtsextremistischen Nachwuchs zum Thema und und teilen in ebendieser Sendung dann mit den Hörern das Rezept für einen "Kleinen Braunen" – einer Kaffeespezialität aus Österreich.
Fitsch: Warum nicht? Wir wollen auch unbequem sein, wollen aufregen und polarisieren. Aber nicht missionieren. Unsere Hörer sollen durch "Den Tag" zum Nachdenken angeregt werden. Wir wollen beim Hörer Interesse wecken und zum eigenständigen Denken anstiften.
"Wir schrecken vor keinem Thema zurück"
Gibt es ein Thema, das sie nicht anfassen würden?
Fitsch: Nein, jedes Thema wird behandelt, solange wir einen pointierten Zugang dazu finden. Wir schrecken vor nichts zurück.
Als Rainer Brüderle und das "Dirndl-Gate" in aller Munde waren, lautete der Titel Ihrer Sendung: "Ein Himmelreich für ein Dirndl".
Fitsch: Und Brüderles Name wurde in den 55 Minuten nicht erwähnt – was ich großartig fand. Bekannt ist ja, dass das Dirndl den Körper besonders betont, vorne und hinten, mit voller Absicht. Dieser Trachtenlook hat nicht nur politisch jetzt große Falten geschlagen, sondern ist schon vor vielen Jahren zum begehrten Bekleidungsstück geworden: von Japan über Johannesburg bis Kanada, Dirndl gehören zum Outfit aller, die etwas zu zeigen haben. Am Tag darauf machten wir eine Sendung mit dem Titel: "Ein fast normaler Regierungswechsel - Hitlers Machtübernahme". Zwischen der einen und der anderen Sendung liegen manchmal Welten. Als ganz Deutschland über das Champions-League-Finale zwischen Bayern und Dortmund sprach, haben wir uns unter dem Titel "1:0 für die Verlierer? Die Schönheit des Scheiterns" mit den Gescheiterten der Weltgeschichte befasst.
Was steht aktuell bei Ihnen an?
Fitsch: Wir beschäftigen uns mit den Gewinnern der Flut. Was kann es in einem Wahljahr für die Umfragewerte eines Politikers Besseres geben, als in Gummistiefeln auf Deichkronen zu stehen und im Hubschrauber über Überflutungsflächen fliegen zu können.
"Uns interessiert das pralle Leben
ebenso wie das karge"
Dafür gibt es doch bestimmt nicht zu knapp Widerspruch und Abneigung.
Fitsch: Das ist aber auch unser Job als Journalisten. Bei uns wird das Kulturelle politisch, und das Politische kulturell. Wir vom Team betreten täglich einen geistigen Abenteuerspielplatz und toben uns aus. Uns interessiert das Leben - das pralle Leben, das karge, das bunte und graue, das schlimme und das traurige. Manchmal haben wir auch eine These, die dann aber innerhalb der Sendung verworfen wird, weil uns unsere Autoren und Gesprächspartner das Gegenteil beweisen. Wir schauen genau hin und das führt zu Anerkennung genauso wie zu Widerspruch. Das ist es uns tatsächlich wert.
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Auf diesen Abenteuerspielplatz begeben sich viele Hörer gerne. Von Hessens 6 Millionen Einwohnern hören 54.000 täglich "Der Tag". Kein anderer hr-Podcast wird häufiger heruntergeladen (monatlich 244.000 Downloads, pro Sendung 11.500 Downloads). Hinzu kommen noch erhebliche Podcastabrufe via ARD Mediathek.
Fitsch: "Der Tag" markiert die absolute Tagesspitze auf hr2-Kultur. Die Hörer schalten uns gezielt ein. Dazu kommen dann noch die Hörer, die uns im Live-Stream hören und diejenigen, die uns außerhalb Hessens hören. Wir bekommen immer wieder Zuschriften von Hörern aus der ganzen Welt, aus Australien, aus den USA, aus Asien. Uns kann man überall und immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit hören – und das wird auch gemacht.
Was war das Bemerkenswerteste, was ein Hörer je zur Sendung gesagt hat?
Fitsch: Ein Professor aus Göttingen hat mir mal geschrieben, dass wir oft genug für ihn ein provokantes Ärgernis seien. Aber er höre "Den Tag" jeden Tag. Denn ein Tag ohne "Den Tag" sei für ihn ein verlorener Tag. – Ein schöneres Kompliment kann es kaum geben.