Sein Denken prägt die katholische Kirche Lateinamerikas seit den 1960er Jahren: Der Peruaner Gustavo Gutiérrez, der am 8. Juni 85 Jahre alt wird, gilt als Begründer der Befreiungstheologie. Die bittere Armut vieler seiner Landsleute bestimmte das Schaffen des preisgekrönten Theologen. "Armut ist kein Unglück, sie ist eine Ungerechtigkeit," betont Gutiérrez und scheut sich nicht, gesellschaftliche Missstände wie Rassismus, Sexismus und wirtschaftliche Ausbeutung zu benennen. Ausgangspunkt seiner Analyse ist dabei stets die Bibel. Hunger und Elend seien nicht gottgewollt, Jesus Christus ist sein Beispiel dafür, dass alle in Würde leben sollen.
Kritikern gilt Gutiérrez als Marxist, der die spirituelle Botschaft der Kirche falsch auslegt. Seine Schriften seien Ideologie. Statt politischer Botschaften sollte die Befreiung des Individuums von der Sünde im Mittelpunkt des christlichen Glaubens stehen, heißt es.
In 20 Sprachen übersetzt
Gutiérrez hatte keine einfache Kindheit. Eine Knochenmarkentzündung fesselte ihn lange Zeit ans Bett, sechs Jahre konnte er sich nur in einem Rollstuhl fortbewegen. Nach seiner Heilung studierte er Medizin und Sprachen. Den Kontakt zur Kirche fand er in der Laienbewegung Katholische Aktion, deren Soziallehre sein theologisches Interesse weckte.
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Der aus der peruanischen Hauptstadt Lima stammende Gutiérrez reiste zum Studium der Theologie in mehrere europäische Städte. Er hielt engen Kontakt mit katholischen Theologen wie Karl Rahner und Hans Küng, interessierte sich aber auch für die protestantischen Arbeiten von Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer. 1959 wurde Gutiérrez zum Priester ordiniert. Seine Doktorarbeit schrieb er 1985 an der theologischen Fakultät von Lyon.
Sein wichtigstes Buch erschien 1971: Die "Theologie der Befreiung" (Originaltitel: "Teología de la liberación") wurde in 20 Sprachen übersetzt und ist das Standardwerk dieser umstrittenen Strömung innerhalb der lateinamerikanischen römisch-katholischen Kirche. Im Mittelpunkt steht die Option für die Armen, die nach Gutiérrez zu einer "Praxis der Befreiung" führt. Im Glauben an Gott solle die Kirche die sozial Schwachen und Unterdrückten ökonomisch und spirituell befreien.
"Die Zukunft der Befreiungstheologie interessiert mich nicht"
Diese Auslegung des Glaubens führte schon bald zum Streit mit dem Vatikan, vor allem mit dem damals für die Glaubenslehre zuständigen deutschen Kardinal Joseph Ratzinger, der später Papst Benedikt XVI. wurde. Gustavo Gutiérrez musste sich in Rom wie in Lima gegen den Vorwurf verteidigen, er reduziere den Glauben auf die Politik.
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Gutiérrez blieb seinen Überzeugungen treu, ohne auf Begrifflichkeiten zu beharren. "Die Zukunft der Befreiungstheologie interessiert mich nicht besonders," sagte er jüngst in einem Interview. "Wichtig ist mir die Zukunft der Armen in dieser Welt, und die Zukunft des Evangeliums in der Geschichte."
In Lima gründete Gutiérrez das renommierte Institut Bartolomé de las Casas und widmete sich intensiv der Arbeit in den Armenvierteln. Kurz vor der Jahrhundertwende trat er dem Dominikanerorden bei. Für sein Lebenswerk wurde er 2003 in Spanien mit dem Prinz-von-Asturien-Preis ausgezeichnet. Die Universitäten von Yale, Tübingen, Freiburg im Breisgau und Nimwegen erklärten ihn wegen seiner theologischen und philosophischen Arbeiten zum Ehrendoktor.
Trotz seines fortgeschrittenen Alters verzichtet Gutiérrez bis heute nicht auf Vortragsreisen und lebt zwischen seiner Heimat Peru und seiner Wahlheimat Frankreich. Auf die Frage, wer er heute, nach all den Ehrungen, für ein Mensch sei, antwortet der kleingewachsene, weißhaarige Mann mit einem fröhlichen Lächeln und den Worten: "Ich bin dein Freund."