Foto: Anika Kempf/evangelisch.de
Deutschlands größter und lautester Vertreter des Boulevards: Die Bild-Zeitung. Auch was für Kirche?
"Wo geht's denn hier zum Boulevard?"
Unter dem Titel "Wo geht's denn hier zum Boulevard?" haben sich kirchliche Öffentlichkeitsarbeiter und Publizisten in Bad Boll getroffen. Christof Vetter, Geschäftsführer des Lutherischen Verlagshauses in Hannover, lieferte in der evangelischen Akademie den hier dokumentierten Eingangsimpuls zum Verhältnis von Kirche und Boulevard. Anlass war die 47. Jahrestagung Öffentlichkeitsarbeit am 27. Mai 2013.

"Wo geht's denn hier zum Boulevard?"

Das ist zuerst mal eine Frage nach einem Weg. Eine Frage, die nicht nach Bad Boll gehört, denn in dem beschaulichen Kurort kann es gar keinen Boulevard geben. Das ist doch der Ort der Theologen Johann Christoph Blumhardt und Christoph Friedrich Blumhardt – Vater und Sohn: Der Vater löste eine Buß- und Erweckungsbewegung aus, sicher, dass das Reich Gottes bald anbrechen würde.

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Da braucht es dann keine Prachtstraßen, keine Leuchtreklame, keine sündigen Andeutungen – wie es ja die Einladung zu dieser Jahrestagung impliziert. Nein, hier in Bad Boll sollte es ernst und gesittet zugehen, schließlich leitete der württembergische Pfarrer das "Königlich Württembergisches Bad für die Oberen Stände". Der Sohn Christoph Friedrich Blumhardt führte dies fort. Er wandte sich später der sozialen Frage zu und den Sozialdemokraten, für die er in den württembergischen Landtag einzog – auch nicht gerade ein boulevardeskes Denken und Leben.

Zudem sind wir in der Akademie, der ältesten evangelischen Akademie: Das ist kein Ort ausschweifenden Lebens. Zwei der Namen, die sich für mich mit dieser Akademie verbinden: Eberhard Müller, der Gründungsdirektor. Sein "bleibender Verdienst" sei es – so weiß Wikipedia – "die Entdeckung des Gesprächs als eines eigenständigen Mediums kirchlicher Arbeit neben der Predigt". Oder Manfred Fischer – Bücher mit seinen stillen meditativen Texten stehen bis heute in meinem Bücherschrank.

"Einmischung in innere Angelegenheiten":

Jesus rief Mitarbeiter zu sich
und er gab ihnen Vollmacht
über Dummheit, Fanatismus und Habgier
alles auszutreiben
was Menschen verdirbt und zerstört.

Die Namen der Berufenen
sind nicht außergewöhnlich
Hartmut, der junge Unternehmer,
und Andreas, der Aussteiger,
Ruth und Els von der Frauenbewegung
Günther, CDU-Mitglied,
und Walter, der Gewerkschaftsmann,
Toni und Sabine
von den Christen für den Sozialismus
Konrad von der Bruderschaft
und Anna seine Schwester,
Siegfried der Corpsstudent
und Matthias, Kriegsdienstverweigerer
und Kernkraftgegner.

Diese sandte Jesus aus
und gebot ihnen:
Sprecht: Das Himmelreich
ist nahe herbeigekommen.
Sagt nicht: Die Katastrophe
ist nahe herbei gekommen
Sagt nicht: es ist alles sinnlos
und vergebliche Liebesmüh;
die Welt ist böse
und hoffnungslos verloren.

So geht es über Sätze, Strophen und Verse, Seiten weiter – eine Interpretation von Matthäus 10 – und es endet dann:

Ihr braucht euch nicht
ängstlich abzusichern.
Verlasst euch nicht auf Stabilität und harte Währung,
auf Medien und Apparaturen,
auf Werbepsychologie und Management.
Sie machen euch nicht mächtiger
und schon gar nicht geistvoller.
Bleibt offen und ungeschützt.
Dann gewinnt ihr Glaubwürdigkeit.

Schlagt das Evangelium
den Menschen nicht um die Ohren.
Droht ihnen nicht mit der Bibel.
Aufdringlichkeit schwächt nur
eure Überzeugungskraft.
Gottes Geist wird euch geleiten.

Nein, beim besten Willen, an Boulevard erinnert weder die angebliche Entdeckung des Gesprächs als Form christlicher Verkündigung, wie sie Eberhard Müller zugeschrieben wird, noch Fischers Übersetzung der Worte Jesu "in Variationen und Meditationen für unsere Zeit". Ganz im Gegenteil!

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Die Frage nach den Boulevards ist eine Frage, die uns geographisch in eine andere Richtung führt: Vielleicht nach Paris auf die Avenue des Champs-Élysées oder nach Barcelona, Las Ramblas;
Königsallee in Düsseldorf;
Wiener Ringstraße;
Unter den Linden in Berlin;
Mönckebergstraße in Hamburg;
Oxford Street in London;
Maximilianstraße in München;
Wenzelsplatz in Prag;

oder auch weiter weg:
Fifth Avenue in New York;
Sunset Boulevard in Los Angeles

Straßen, die eine Magie ausstrahlen, die das Herz höher schlagen lässt – zumindest viele und vielleicht vornehmlich weibliche, wenn wir Konstantin Wecker glauben möchten:

Zu viel Geld im Portemonnö -
und das soll man auch seh n.

Drum tragen sie Pelz,
wenn´s sein muss im August:
den Arschlöchern gefällt´s,
das steigert ihre Lust.

Sie tragen Trauer unterm Nerz,
verstecken sich in Tüll.
Geliftet auch ihr Herz,
im Hirn nichts als Müll.

Ob in New York, Tokiö,
Maximilianstraßö,
überall gibt´s ne Kö
für die Hautevolöö.

"Die Damen von der Kö" heißt dieser Song des bayrischen Altmeisters – und bevor jetzt die schon erwähnte "Ruth und Els von der Frauenbewegung" aufstehen, der kleine Hinweis, den sich Wecker im zweiten Vers erlaubt:

Auch gewisse Herr´n
aus dem Big Business
verstecken sich gern
hinter Protz und PS,

Und trotzdem die Frage nach dem Boulevard, der alten Ringstraße, an der Stadtmauer, dem Bollwerk entlang – daher nämlich der Name. Dort, wo das Leben pulsiert, die Oberflächlichkeit fröhliche Urständ feiert, konfrontativ, laut, sexistisch, auf Show bedacht, präsentierend und eben: viel Fassade.

"Wo geht’s denn hier zum Boulevard?"

Das Boulevard, das mit der Frage wirklich gemeint ist, gibt es auch in Bad Boll: zu kaufen in dem Kiosk drüben am Kurhaus, zu sehen auf den Mattscheiben der Bad Boller Bürger. Aber nicht hier in der Akademie, denn dies ist Prinzip aller evangelischen Akademien: Um aller Zerstreuung und Ablenkung zu wehren, um Ruhe, Meditation und Einkehr – ein Wort, dass das Boulevard maximal für den Besuch einer Kneipe nutzt – zu ermöglichen, gibt es auf den Zimmern keine Fernseher. Und um das Boulevard aus allen Formen der Besinnung auszuschließen, ist das neue, ökologisch verantwortlich gebaute Niedrigenergie-Haus, in dem wir alle untergebracht sind, nicht mit WLAN ausgestattet: Wo die Energie nicht raus darf, kann das Boulevard nicht rein!

"Wo geht’s denn hier zum Boulevard?"

Exclusiv – explosiv – brisant – hallo Deutschland – SAM – taff – Leute heute... oder auch: Abendzeitung (München und Nürnberg), B.Z., Berliner Kurier, Bild, Express (Köln und Umgebung), Morgenpost (Hamburg), tz (München)... Das klingt doch schon ganz anders. Auflagenstark und quotenreich, farbig und emotional, durchaus ästhetisch und sensationsorientiert, plakativ... Oder anders ausgedrückt: Politik wird personalisiert, ausgewählt wird nicht streng nach journalistischen Kriterien, sondern auch mit dem Blick auf die Kunden. Kundennachfrage und -zufriedenheit sind im Blick der Macher entscheidende Faktoren.

Das gekoppelte Reizwort des Boulevard

Die Themen, die Nachrichten, die Berichte, die Bilder sollen Schicksale erleben lassen. Katastrophen, Kriminalität, Exotik und Sexualisierung. Personalisierung, Kontroverse und Aggression werden zu Kriterien journalistischer Entscheidung. Und wenn es gar nicht anders geht, wird eine Banalität skandalisiert – manchmal helfen unbedarfte Boulevard-Protagonisten einfach schnell mal mit. (Vielleicht gar nicht so unbedarft, sondern mit der klaren Absicht, mal wieder in die Schlagzeilen zu kommen.)

Mit dem Boulevard verbunden die große Gefahr – "Netzwerk Recherche" als eine der letzten Bastionen des wahren Journalismus warnt – die Boulevardisierung des gesamten Journalismus, die schleichend und fortwährend zu beobachten ist.

So war vor wenigen Tagen in der seriösen Süddeutschen Zeitung zu lesen:

Das sicherste Erkennungszeichen für ein Boulevardmedium ist das gekoppelte Reizwort. Das "Sex-Monster". Der "Brutalo-Schläger". Das "Rinnstein-Baby". Letzteres war, wie so vieles, eine Erfindung der Springer-Blätter, die damit jahrelang über eine Familientragödie in Berlin berichteten. Der brachiale Koppelbegriff hat aus Sicht seiner Erfinder zwei Vorteile. Er setzt, erstens, einen Reiz, der auch im Vorbeigehen am Kiosk oder beim eiligen Klicken wirkt. Er schafft, zweitens, einen Titel, bei dem das Publikum nach wiederholter Verwendung genau weiß, wer gemeint ist.

In jüngster Zeit wird dieser Kunstgriff allerdings mehr und mehr zum journalistischen Alltag, angetrieben durch ein Medium, das die wenigsten mit Boulevardsprache verbinden. "Polnisches Promille-Baby außer Lebensgefahr", titelte in dieser Woche nicht die Bild-Zeitung, sondern die Deutsche Presse-Agentur (dpa). Die Instanz für nachrichtliche Seriosität, der Marktführer. In der Meldung ging es um einen neugeborenen Jungen, dessen Mutter hochschwanger mit 4,5 Promille Alkohol im Blut in einem Schnapsladen zusammengebrochen war. Nach der Entbindung per Kaiserschnitt im Krankenhaus stellten die Ärzte bei dem kleinen Jungen dann einen Blutalkoholwert von 2,6 Promille fest.

Und es ist klar, was folgt, ist die moralin-saure Frage: Ist das ein angemessener Begriff für ein Kind, das, wenn, dann wohl nur mit schweren Behinderungen überleben wird? Oder ist der Reizbegriff in diesem Fall nicht völlig daneben und überreizt? Zumal er durch den Zusatz "polnisch" als lockere Alliteration daherkommt, was ebenfalls mehr nach Boulevard als nach klassischer dpa klingt.

Und dpa versuchte schnellstmöglich den Schaden zu begrenzen. Christian Röwekamp, Sprecher der dpa, wollte den Begriff "Promille-Baby" auf Anfrage nicht kommentieren. Er sagte aber, dass die dpa für sehr unterschiedliche Kunden arbeite und deren Interessen berücksichtigen müsse. "Wenn wir einen Sachverhalt in der Überschrift sprachlich zuspitzen, dabei aber korrekt wiedergeben, ist das aus meiner Sicht in Ordnung." Intern werde über Formulierungen oft und intensiv diskutiert. Im Zweifelsfall sei es aber besser, wenn eine Formulierung "locker und leicht verständlich ist statt langweilig oder kompliziert".

"Wo geht’s denn hier zum Boulevard?"

Nein, ich werde jetzt nicht das mediale Boulevard genauer definieren – das können andere, die nach mir sprechen, besser. Und für alle, die es genau wissen wollen: Ulrike Dulinski, "Sensationsjournalismus in Deutschland", auch wenn diese herausragende Arbeit langsam die Patina des Alters ansetzt. Da ist dann alles nachzulesen: Die Soziologie der Boulevardjournalisten (zumindest wie es vor zehn Jahren war), wie inhaltlicher Sensationalismus zur Themen(um)gewichtung führen kann, die veränderte Sprache im Boulevardjournalismus, sensationsheischendes Layout … und … und.

Die Mittel des Boulevard sind der Kirche fremd

Ich soll hier einen Impuls setzen – und dies auch im Blick auf die evangelische Kirche. Sie hat in ihrem vorletzten publizistischen Gesamtplan 1979 das mangelhafte Angebot für die Boulevardmedien bedauert, zu einer Zeit, als es noch keine deutschen Sendelizenzen für privates Fernsehen und privaten Hörfunk gegeben hat,  Boulevard noch auf eine bundesweite Zeitung und einige wenige Zeitungen in größeren Städten beschränkt war.

Ob sich seither viel geändert hat? Der Vorsitzende der AG ÖA Uwe Moggert-Seils vermutet in seiner Einladung zu dieser Tagung, die Grundfrage sei trotz aller Veränderungen und Entwicklungen in den Medien und in der Kirche geblieben. Recht hat er. Aber ich schränke ein: Die Antworten haben sich in den letzten Jahren und mit neuen Erfahrungen verändert – auch meine persönlichen. Ich war bei einigen Versuchen, am Boulevard Kirche zu beheimaten, dabei: Wolfgang Huber in der B.Z. und Margot Käßmann in der Bild Hannover.

Ich habe erlebt, wie das Boulevard mit denen umgesprungen ist, die in der Kirche aufgefallen sind. Eine ist über eine rote Ampel gefahren und ein anderer wird verdächtigt, angeblich seinen Mitarbeiterinnen grenzüberschreitend zu persönlich begegnet zu sein. Die schonende Berichterstattung der Boulevardmedien – allen voran die der Bild-Zeitung – über diese beiden Ereignisse würden sich von ähnlichen "Delikten" betroffene Politiker dringend wünschen.

Nichtsdestotrotz bleibt die Frage: Wie kann das "Defizit an kaum entwickelten Beziehungen zwischen der Kirche und den Boulevard-Medien abgebaut werden"? Lassen Sie es mich mit ein paar Stichworten abschließend probieren, die in meinen Gedanken und Worten schon vorgekommen sind:

Personalisierung: Wie soll das in einer Institution geschehen, die der Kommunikationswissenschaftler Christoph Fasel nicht ohne Grund mit einer Champignonzucht vergleicht: "Steckt einer der den Kopf raus, wird er abgehackt"?

Skandalisierung: Wie soll das mit einer Glaubensgemeinschaft umgesetzt werden, deren grundsätzliche Botschaft das "skandalon" schlechthin ist und die darin die Gnade Gottes und die Vergebung aller Menschen erkennt?

Sexualisierung: Wie soll das in einer Menschengemeinschaft vermittelt werden, die sich auch im 21. Jahrhundert noch schwer tut, Beziehung außerhalb und neben der kirchlich getrauten Ehe von Mann und Frau etwas abzugewinnen?

Sensationsorientierung: Wie soll das aussehen in einer Institution, die sich zehn Jahre lang darauf vorbereitet, an ein sensationelles Ereignis zu erinnern, das vor 500 Jahren geschehen ist? Dieses Ereignis hat übrigens an einem Ort stattgefunden, den man aus heutiger Sicht gut und gern als Boulevard bezeichnen könnte.

Plakative Darstellung: Wie kann das geschehen mit einer Theologie – ich erinnere an Eberhard Müller, den Gründer dieser Akademie – in der das Gespräch, der Diskurs, das Ringen um einen Konsens und die Achtung vor jedem auch noch so abstrusen Minderheitenvotum zum eigenen Selbstverständnis geworden ist und gehört?

Emotionalisierung: Auch das kann ich mir schwer vorstellen, vornehmlich im Kernland des Pietismus, wo das Wort "Lust" zu den unaussprechlichen Buchstabenfolgen gehört, aber auch in einer Kirche, die für Emotionen alle zwei Jahre einen Kirchentag hat: Es darf geklatscht und getanzt werden.

Kirche muss dort sein, wo die Menschen sind

Nein, ich möchte nicht "meine evangelische Kirche" schlecht machen. Ich schätze sie so, wie sie ist, und unter dem Vorbehalt, dass sie semper reformanda bleibt. Ich weiß, dass es in der Kirche auch Stimmen gibt, die sich etwa eine emotionale Glaubensgemeinschaft wünschen und – was wichtiger ist – auch leben. Aber ich frage mich in den letzten Jahren zunehmend, ob die Kirche wirklich die Nähe zum Boulevard braucht, will und sich wünschen kann. Meine Sorge ist eher, dass sie zunehmend die Nähe zu den und die Räume in den weniger sensationsheischenderen Medien verliert.

Ob Günter Jauch Kirche betalkt – nicht ohne evangelische Beispiele, aber ohne evangelische Beteiligung, oder ob der Vorsitzende des Rates der EKD sich zum Klonen äußert – nicht allgemein für die Medien zugänglich, sondern ausschließlich und exklusiv mit einem Blatt. Ob Ulrich Anke, Präsident des Kichenamtes der EKD, die Maxime evangelischer Publizistik von "Mandat und Markt" verschiebt – zugunsten des Mandats dessen, der die Publizistik bezuschusst. Oder ob mit juristisch fein ziselierten Argumenten Auskünfte und Aussagen zu kirchlichen Würdenträgern, die es nach evangelischem Verständnis gar nicht gibt, verweigert werden, obwohl diese dem Anspruch, der uns allen gestellt ist, nicht entsprochen haben. Das ist nicht Sensationsjournalismus, sondern die – nach meinem Verständnis – nötige und alltägliche Präsenz in den Medien.

Ich werde zögerlich mit meinem vielen hier in diesem Kreis bekannten Ja zur "Präsenz der Kirche auf dem medialen Boulevard". Und ich bekenne doch: Kirche muss auf den Boulevard, weil Kirche dort sein muss, wo die Menschen sind und wo Jesus hingegangen ist. Zu den Blinden, Verruchten, Gelähmten, Blutflüssigen, Betrügern, Verkrümmten, Verkrüppelten, Aussätzigen, aber auch zu den Reichen und Schönen.